• 07. Dezember 2020 · 06:22 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lewis Hamilton

Wie George Russell mit einem einzigen Rennen die in Stein gemeißelt scheinende Dynamik in der Formel 1 und bei Mercedes mächtig durcheinandergerüttelt hat

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lewis Hamilton

George Russell hat dem Denkmal von Lewis Hamilton ein paar Kratzer verpasst Zoom Download

es ist mit dem gestrigen Abend zumindest nicht leichter geworden, den "casual" Formel-1-Fans da draußen zu erklären, dass Lewis Hamilton nicht in erster Linie wegen seines herausragenden Talents und seines unermüdlichen Strebens nach Perfektion sechsmal auf Mercedes Weltmeister geworden ist.

Meine eigene Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll" (Gerne liken und so viele Waschmaschinen gewinnen, wie Du mit einer Hand tragen kannst!) ist der beste Beweis dafür.

"Endlich sieht jeder, dass Hamiltons Erfolge nicht den Wert haben, den viele glauben", schreibt da jemand, oder: "Am heutigen Beispiel kann man gut sehen, dass wahrscheinlich jeder gute Fahrer den Mercedes schnell bewegen könnte. Das war zu 'Schumi'-Zeiten anders. Also ist für mich Hamilton mit Sicherheit nicht der aktuell beste Fahrer."

Jetzt steht natürlich außer Frage, dass mit dem Mercedes nicht nur Hamilton Rennen gewinnen kann. Vielmehr muss man sich dem Thema aus einer anderen Richtung nähern, wenn man das richtig einordnen möchte, was da am Sonntagabend beim Grand Prix von Sachir passiert ist.

Könnte Russell im Mercedes Hamilton schlagen?

Nämlich so: Wer wäre dazu in der Lage, im Mercedes einen Teamkollegen Lewis Hamilton zu schlagen?

Valtteri Bottas, das wurde in den vergangenen vier Jahren hinlänglich bewiesen, jedenfalls nicht. Und da Bottas für mich zu den sieben, acht besten Fahrern der Formel 1 gehört, gibt's meiner (ganz subjektiven) Meinung nach nicht allzu viele Kandidaten, für die man diese Frage treffsicher mit Ja beantworten kann.

George Russell gehört jetzt, da führt kein Weg dran vorbei, dazu.

Ich habe immer schon die Meinung vertreten, dass der junge Mann, der einst als 15-jähriger Knirps und mit einer Powerpoint-Präsentation bewaffnet bei Toto Wolff einmarschiert ist, um mit Listen und Grafiken zu beweisen, wie gut er ist, noch viel besser ist als sein ohnehin schon guter Ruf.


Letzte Nacht: George Russells F1-Stern geht auf

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A Star is born: Fährt George Russell schon 2021 für Mercedes? Es gibt viel zu besprechen nach dem Grand Prix von Sachir in Bahrain ... #LetzteNacht Weitere Formel-1-Videos

Im Nachhinein gehen wohl auch einigen die Augen auf, was Robert Kubicas Leistungen bei dessen Comeback im Williams betrifft. Wenn Russell mit dem Mercedes quasi aus dem Ärmel geschüttelt auf Hamilton-Niveau fahren kann, dann war 2019 womöglich gar nicht Kubica so schlecht, sondern Russell so gut.

Eine These, die ich zum Beispiel im Formel-1-Podcast "Starting Grid" immer und immer wieder vorgetragen habe.

Wie die Fans den Grand Prix von Sachir einordnen

"Heute wurde sehr deutlich, wer der eigentliche Star bei Mercedes ist: das Auto", schreibt einer meiner Facebook-Freunde. "Es mag den Hamilton-Faktor geben, jedoch hat uns dieser junge Racer in den letzten Tagen gezeigt, dass dieser wahrscheinlich nicht ganz so außergewöhnlich ist, wie er bisher gehandelt wurde."

Ich wäre am Sonntagabend echt gern bei Lewis Hamilton in dessen Hotelzimmer in Bahrain gewesen (in dem er sich mutmaßlich immer noch aufhält - von ihm gehört haben wir ja seit Tagen nichts) und hätte mit ihm das Rennen geschaut. Um zu hören, wie er das bewertet, was Russell mit "seinem" Auto angestellt hat.

Man muss die Kirche auch ein bisschen im Dorf lassen: Auf eine schnelle Runde im Qualifying war Bottas, zwar knapper als gedacht, aber doch, der schnellere Mann. Aber im Rennen, da hatte Russell den Finnen im Griff.

Wäre nicht Russell, sondern Hamilton in dem Auto gesessen, hätten wir heute messerscharf analysiert, wie das wieder mal ein Beweis dafür ist, dass Hamilton im Rennen, wenn's auf den Umgang mit den Reifen ankommt, einfach eine Klasse besser ist als Bottas. Und wie ihn genau das abhebt von allen anderen. Eine von vielen Qualitäten, die ihn zum siebenmaligen Weltmeister gemacht haben.

Ich kann mir schon vorstellen, dass Lewis nicht gut geschlafen hat. Sicher hat er seinem Ersatzmann mindestens per WhatsApp zu seiner Leistung gratuliert und ihm geschrieben, dass er nicht traurig sein soll, weil er noch genug Zeit hat, sehr viele Rennen zu gewinnen. Er ist schließlich ein fairer Sportsmann.

Aber Lewis wäre nicht Lewis, wenn es ihn nicht zumindest ein bisschen wurmen würde, dass da ein Jungspund kommt, sich in sein Auto setzt, Bottas quasi aus dem Stand genauso entzaubert, wie er es getan hätte, und nebenbei auch noch das Überholmanöver des Jahres zeigt.

Das Überholmanöver des Jahres

Denn, wow, hast Du gesehen, wie frech Russell Bottas nach dem misslungenen Boxenstopp überholt hat? Und das ohne Berührung, ganz fair, an der Stelle? Das ist das Holz, aus dem die Champions von morgen geschnitzt sind! Chapeau.

Ich muss jetzt mal ein Geheimnis verraten. Vor ein paar Wochen habe ich Dr. Marko angerufen und ihn mit einer Spinnerei meinerseits konfrontiert. Meine Theorie: Solange Hamilton keinen neuen Mercedes-Vertrag unterschrieben hat, kann man sich bei Red Bull den WM-Titel 2021 für sehr viel Geld einfach kaufen.

Nehmen wir mal an, Hamilton verdient bei Mercedes gut 40 Millionen Euro pro Saison (reine Spekulation meinerseits, basierend auf Schätzungen anderer Medien). Dann könnte Dietrich Mateschitz ja die ungeklärte Vertragssituation bei Mercedes nutzen, um dem Herrn Hamilton das Doppelte zu bieten (das "Salary-Cap" gibt's bekanntlich noch nicht).

Dann, so dachte ich, muss sich Toto Wolff warm anziehen, wenn er mit Bottas als #1 gegen ein Duo Hamilton/Verstappen im Red Bull Weltmeister werden will. Oder, anders ausgedrückt: Wenn es Red Bull 80 Millionen Euro wert ist, dann kann man den WM-Titel 2021 einkaufen.

Jetzt hat mein Gedankenspiel natürlich ein paar Schönheitsfehler.

Erstens, dass Dr. Marko von seinem Credo abweichen müsste, nie einen teuren Superstar ins Team zu holen statt einen hauseigenen Junior. Würde er nie, hat er mir versichert.

Zweitens, dass die Entscheider bei Red Bull herzlich wenig Lust darauf hätten, einen solchen Kniefall vor Hamilton zu machen.

Und drittens, dass das Verstappen, dem "Golden Boy" von Marko für die nächsten Jahre, wahrscheinlich nicht schmecken würde.

Aber schieben wir das mal alles für einen Moment beiseite und nehmen wir an, Hamilton würde sich vielleicht auf einen solchen Deal einlassen, obwohl er bei Mercedes auch nach der aktiven Karriere als Markenbotschafter den Rest seines Lebens vergolden kann.

Warum der Nimmervollsche Masterplan Nonsens ist

Mit dem Grand Prix von Sachir ist meine Logik völlig in sich zusammengebrochen. Denn von den 40 Millionen, die er an Gage für Hamilton einsparen würde, könnte Wolff eine einzige nehmen und George Russell überweisen, der das Angebot mit Kusshand annehmen würde. Und wenn der 2021er-Mercedes genauso überlegen ist wie der 2020er, dann wird damit wahrscheinlich auch Russell Weltmeister.

Gestern nach dem Rennen habe ich an einer Zoom-Konferenz mit Toto Wolff teilgenommen. Mein Kollege Andrew Benson von der BBC hat dem Mercedes-Teamchef die unausweichliche Frage gestellt, die ich auch stellen wollte, nämlich wie er den Menschen da draußen jetzt erklärt, dass Lewis Hamilton nicht nur deswegen ein Rennen nach dem anderen gewinnt, weil er im besten Auto sitzt.

Seine Antwort klingt so: "Lewis Hamilton gewinnt so viele Rennen und Titel, weil er im Moment der beste Fahrer im besten Auto ist. Wir gehen damit sehr demütig um, denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir ihm das beste Auto hinstellen. Und deshalb haben wir einen positiven Einfluss auf seine Erfolge, wenn das Auto gut funktioniert, und einen negativen, wenn unser Auto nicht funktioniert."

"Es gibt keinen Fahrer, der den Unterschied ganz allein ausmacht, und es gibt nicht das Auto, das den Unterschied ganz allein ausmacht. Es ist immer eine Kombination aus beidem. Lewis ist immer noch die Messlatte, er ist der beste Fahrer da draußen. Das hat er mit seinen vielen Rekorden bewiesen. Und wir sollten die Kirche nach einer phänomenalen Fahrt eines jungen Burschen, der eine große Zukunft in der Formel 1 hat, im Dorf lassen. Denn Lewis ist immer noch die Messlatte."

Daimler-Konzern: Verhandlungsposition gestärkt

Aber eins ist auch klar: Wenn Hamilton in stürmischen Zeiten der Coronakrise für seinen nächsten Mercedes-Vertrag eine noch exorbitantere Gage fordern sollte, als er bisher verdient hat (ob er das wirklich tut, wie das manche Medien berichten, wissen wir nicht), dann hat der Daimler-Konzern mit dem gestrigen Abend fleißig Gegenargumente gesammelt. Denn das Szenario, dass man 2021 ohne Hamilton womöglich aufgeschmissen wäre, hat in Bahrain dank Russell eindeutig an Schrecken verloren.

Diese unbestreitbare Dynamik, auch das hat Wolff im besagten Zoom-Call durchblicken lassen, will der Mercedes-Chef in den noch zu führenden Verhandlungen mit Hamilton aber nicht ausnutzen, um das Gehalt des siebenmaligen Weltmeisters zu drücken: "Das sind zwei verschiedene Dinge. Lewis ist seit acht Jahren im Team. Wir hatten in der Vergangenheit große Erfolge. Er ist ein Teammitglied."


Toto Wolff über Russells Leistung in Bahrain

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Die Ereignisse von Bahrain werden daher keinen Einfluss auf die Vertragsverhandlungen haben, versichert er: "Das wäre Lewis gegenüber nicht fair. Und es wäre auch für uns nicht fair, denn es hätte genauso gut andersrum kommen können, wenn George nicht schnell gewesen wäre. Ich glaube, dann würde Lewis auch keine Minute darauf beharren, dass das jetzt ein Vorteil für ihn ist."

Da bin ich mir, Toto Wolffs Vertrauen in Hamilton in allen Ehren, nicht ganz so sicher. Aber ich glaube ihm, wenn er sagt: "Unsere Vertrauensbasis geht weit darüber hinaus."

Ist da was im Busch bei Mercedes?

Geht es übrigens nur mir so, dass ich Toto Wolff am vergangenen Wochenende immer ein bisschen kühl fand, wenn er auf Lewis Hamilton angesprochen wurde? Finde nur ich es merkwürdig, dass sich der Formel-1-Influencer Nummer 1 seit der formlosen Mitteilung, dass er am Coronavirus erkrankt ist und Bahrain 2 nicht fahren kann, nicht mehr blicken hat lassen?

Geht es ihm vielleicht körperlich nicht gut? Ich wünsche jedenfalls aus ganzem Herzen gute Besserung! Meine Freundin hatte COVID-19 schon, und ich möglicherweise auch. Von daher weiß ich, dass das auch für (relativ) junge Menschen kein "Lercherlschas" ist.

Ich weiß nicht, was es ist, aber mich beschleicht das Gefühl: Irgendwas ist da merkwürdig.

Vielleicht ist Hamilton, der 2020 mehr über sein Leben nachdenkt als je zuvor, nach dem Unfall von Romain Grosjean bewusst geworden, dass er in der Formel 1 eben doch sein Leben riskiert, und dass er nicht vorhat, das aufs Spiel zu setzen, sondern genauso gut als erfolgreichster Rennfahrer aller Zeiten (das ist er ja jetzt, unbestritten) abdanken könnte, zur Not halt auch mit sieben statt acht WM-Titeln?

Ich kann das nicht beantworten. Die Euphorie um seine Rekorde, die ist jedenfalls binnen weniger Tage sehr viel leiser geworden.

Die nächste Frage ist für mich jetzt: Stellt er sich auch noch der Herausforderung Russell, um die Zweifler endgültig zum Schweigen zu bringen - oder tritt er mit dem Makel ab (egal ob jetzt sofort oder erst später), dass da vielleicht einer gewesen wäre, der ihm im gleichen Auto womöglich hätte Paroli bieten können?

Was sich die Fans wünschen, ist jedenfalls klar: "Wir wollen George vs. Lewis schon 2021!", schreibt einer auf "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll".

Dem schließe ich mich an.

Ihr Christian Nimmervoll

In diesem Jahr neu: Folge mir auf Facebook unter "Formel 1 inside" mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's alle von mir verfassten Formel-1-Texte sowie Insiderinfos, Meinungen und Einschätzungen zu aktuellen Themen. Und natürlich die Möglichkeit, diese Kolumne zu kritisieren und zu diskutieren!

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