Kommentar: Was für einen Rücktritt von Sebastian Vettel spricht
Chefredakteur Christian Nimmervoll über Sebastian Vettels Abschied von Ferrari und warum dieser zu einem Abschied für immer aus der Formel 1 werden könnte
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
es war ein echter Paukenschlag, der mich am späten Montagabend aus dem Bett geklingelt hat. Um 22:40 Uhr machte sich mein Smartphone bemerkbar. Ich zögerte kurz, bei einer unbekannten Nummer so spät noch ranzugehen, zumal gerade bis 17. Mai im Urlaub. Es ist aktuell schon denkbar schwierig, meiner Lebensgefährtin glaubwürdig zu erklären, dass jeden Tag etwas so Wichtiges passiert, dass ich für Urlaub gerade einfach keine Zeit habe. Aber um 22:40 Uhr, von einer nicht gespeicherten Nummer, das MUSSTE etwas Wichtiges sein.
Heute wissen wir: War es auch. Nach exakt zwölf Minuten hatte ich genug gehört, um zu verstehen, dass Sebastian Vettel Ferrari verlassen und damit eine ganze Kettenreaktion an Transfers auslösen würde. Einen weiteren Anruf und zwei, drei WhatsApp-Messages später war klar: Die Geschichte, die mir meine Quelle (die ich an dieser Stelle natürlich aus Gründen der Vertraulichkeit nicht preisgeben werde) aufgetischt hat, ist glaubwürdig. Bis ins letzte Detail.
Und jetzt?
Die große Frage: Will Vettel überhaupt weitermachen?
Beginnen wir zunächst mit der alles entscheidenden Frage: Möchte Vettel seine Karriere in der Formel 1 nach 2020 überhaupt fortsetzen? Die Möglichkeiten auf einen Teamwechsel werden immer überschaubarer. Red Bull hat ihm freundlich, aber doch bestimmt abgesagt. McLaren ist seit heute zu (ich frage mich übrigens immer noch, wer die Falschinfos über eine Vettel-Verpflichtung am Mittwoch gestreut hat und aus welchem Grund).
Dann vielleicht Renault, anstelle von Daniel Ricciardo, der dort zuletzt 25 Millonen Euro Jahresgage kassiert hat? Für mich nicht vorstellbar. Renault ist der gleiche politische Intrigantenstadel wie Ferrari, nur eben eine Nummer kleiner und mit Baguette statt Pasta. Und Geld, das glaube ich Vettel, ist sicher nicht die Motivation, seine Karriere fortzusetzen.
Wobei Geld bei seinem Nein zu Ferrari meiner Vermutung nach sehr wohl eine Rolle gespielt hat. Nicht, weil es ihm um die Dollars auf dem Konto geht, nein. Sondern weil es einen viermaligen Formel-1-Weltmeister zurecht kränkt, wenn der um zehn Jahre und 51 Grand-Prix-Siege jüngere Charles Leclerc erst einen gut dotierten Vertrag bis 2024 unterschreiben darf und er selbst (zunächst, später hat Ferrari nachgebessert) mit einem Einjahresvertrag abgespeist werden soll, und selbst das nur bei stark reduziertem Gehalt.
Fotostrecke: "Grazie ragazzi": Sebastian Vettels Ferrari-Momente
101 Rennen hat Sebastian Vettel seit 2015 für die Scuderia Ferrari absolviert. Vor Saisonbeginn 2020 kann er auf 14 Siege, 12 Pole-Positionen und insgesamt 54 Podestplätze in Rot verweisen. Wir blicken zurück auf die vergangenen fünf Jahre! Fotostrecke
Es geht nicht um die Dollars auf dem Konto. Es geht um die Symbolik, die damit einhergeht. Geld ist für Formel-1-Fahrer ein Zeichen der Wertschätzung, der Anerkennung für ihre Lebensleistung. Ein Zeichen des Vertrauens.
Vertrauen ist genau das, was Vettel bei Ferrari gefehlt hat. Für seine durchschlagenden Erfolge bei Red Bull gab es mehrere Gründe. Sicher das Auto mit dem angeströmten Diffusor, das seinem Fahrstil entgegenkam. Anders als sein großes Vorbild Michael Schumacher mag es Vettel nicht, wenn das Heck schwänzelt. Er braucht eine starke Hinterachse, weil er zu den wenigen Rennfahrern gehört, die mit einem kontrollierbaren Untersteuern ganz gut zurechtkommen.
Zweitens: Mark Webber kann ein Liedchen davon singen, dass Vettel von Red Bull uneingeschränkt unterstützt wurde. Dabei ging es nie in erster Linie um eine konkrete Bevorteilung oder die besseren Teile. Sondern vielmehr um ein Gefühl des Vertrauens, um Nestwärme, um Rückendeckung - selbst wenn man vielleicht mal einen Fehler gemacht hat.
Istanbul 2010: So wie Red Bull stand Ferrari nie hinter Vettel
Wer dabei war, als Helmut Marko Vettel nach der Kollision mit Webber in Istanbul 2010 verteidigt hat, kam sich damals vor wie in einem Paralleluniversum. Was Webber verständlicherweise auf die Palme brachte. Aber es ist genau diese Art von Rückendeckung, die ein sensibler Fahrer wie Vettel braucht, um sein außergewöhnliches Talent im vollen Umfang abrufen zu können.
Vertrauen, das bei Ferrari schon lange nicht mehr vorhanden war.
Viele vertreten dieser Tage die Auffassung, dass das Verhältnis zwischen Vettel und Ferrari erst mit der Ankunft von Leclerc Anfang 2019 Risse bekam. Das habe ich aus meiner Perspektive anders beobachtet.
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Ein Beispiel: Nach seinem bitteren Malheur in Hockenheim 2018, wo er (im Nachhinein betrachtet) den WM-Titel im verregneten Kiesbett der Sachs-Kurve vergraben hat, war Vettel am Boden zerstört. Aber er lief damals nicht zuerst zu seinem Chef Maurizio Arrivabene, um sich auszuheulen - sondern klopfte an einer ganz anderen Tür an ...
Und dass Ferrari die vergangenen beiden Jahre möglicherweise nur den besten Motor hatte, weil die von Teamchef Mattia Binotto geführte Technikabteilung in Maranello die Grenzen des Reglements zumindest sanft verschoben, wahrscheinlich aber sogar überschritten hat, geht mit den Wertvorstellungen eines integren Mannes wie Sebastian Vettel nicht zusammen. Eine Tatsache, die viele in ihren Analysen übersehen.
Vettel mag grenzenlos ehrgeizig sein. Was sich auch daran äußert, dass er bockig sein kann wie ein kleines Kind, wenn er nicht gewinnt. Am meisten, wenn es seine eigenen Fehler sind, die ihn einen Erfolg kosten. Aber noch wichtiger als der Erfolg ist ihm der Sportsgeist. Man kann von Vettel halten, was man will: Lieber gewinnt er gar nicht als mit unfairen Mitteln. Übrigens etwas, was ihn von so manch anderem Champion der Vergangenheit unterscheidet.
Ferrari, die Todts und die Politik ...
Ferrari - sicher ist das ein Grund, warum die Scuderia seit Kimi Räikkönen 2007 keine Fahrer-WM mehr gewonnen hat - ist anno 2020 so politisch wie schon lange nicht mehr. Leclerc, so unscheinbar er auch daherkommen mag mit seinem Jungengesicht, ist mit 22 schon mit allen Wassern gewaschen. Und hat mit Nicolas Todt (Sohn von FIA-Präsident Jean Todt, dem ehemaligen Ferrari-Teamchef) einen Manager, der es bestens versteht, die politische Klaviatur zu spielen und dazu immer freundlich zu lächeln, als wäre nichts gewesen.
Auch wenn Vettel das nie zugeben würde, ja vielleicht nicht einmal richtig wahrgenommen hat, weil er auf seinem politischen Ohr weitgehend taub ist (was charakterlich für ihn spricht): Der Einfluss der mächtigen Familie Todt bei Ferrari, das angespannte Verhältnis zu Teamchef Mattia Binotto (der nur aussieht wie ein unscheinbarer Harry Potter, aber in Wahrheit auch ganz anders kann) - all das hat seinen Teil dazu beigetragen, dass die Stimmung vergiftet war. Und in Wahrheit schon lange nicht mehr zu kitten.
Dass es so lange gedauert hat, bis Vettel bereit war zu gehen, hat, so vermute ich, zwei Gründe. Erstens die Coronakrise. Darauf gehe ich später genauer ein. Und zweitens ist Vettel keiner, der sich besonders schnell auf neue Situationen einstellen kann. Sich innerlich vom großen Kindheitstraum verabschieden zu müssen, auf Ferrari Weltmeister zu werden, war sicher ein langer, schmerzhafter Prozess.
Aber es ist ein bisschen wie am Aktienmarkt: Manchmal ist es klüger, das Portfolio trotz fallender Kurse zu verkaufen und Schäden zu begrenzen, anstatt sich an einen Strohhalm Hoffnung zu klammern und letztendlich das ganze Vermögen zu verzocken.
Warum aber wegen der Coronakrise? Ich bin darauf schon im Podcast Starting Grid, den wir am Dienstagabend aufgezeichnet haben, eingegangen. Übrigens ein heißer Tipp für alle Vettel-Fans!
Meine Theorie (und mehr als das ist es nicht, weil ich schließlich auch nicht in Vettels Kopf schauen kann): Die Isolation mit Frau Hanna und seinen drei Kindern, zurückgezogen auf seinem beschaulichen Bauernhof in der Schweiz, könnte Balsam für seine in der Formel 1 geschundene Seele gewesen sein. Es muss ihm unendlich guttun, mal nicht von Journalisten genervt zu werden, mal weg zu sein von den Spannungen des Ferrari-Teams, mal einfach wie ein normaler Mensch leben zu können, ohne dicht gestaffelten Zeitplan und permanentes Scheinwerferlicht.
Und vor allem: seinen zwei Töchtern und seinem Sohn ganz entspannt beim Aufwachsen zuschauen zu können. Gut möglich, dass es etwas macht mit einem Formel-1-Champion, wenn er statt auf der Rennstrecke sein Leben zu riskieren mal länger zu Hause ist. Anderen würde vielleicht die Decke auf den Kopf fallen. Aber Vettel ist kein Jetsetter wie sein großer Rivale Lewis Hamilton, sondern ein Familienmensch. Ganz bodenständig, mit geerdeten Werten.
Wie man die Ferrari-Pressemitteilung auch lesen kann
Corona, so Vettel im Ferrari-Statement zu seinem Abschied, habe ihn dazu veranlasst, "darüber nachzudenken, was unsere wirklichen Prioritäten im Leben sind". Und, Hand aufs Herz: Ist ein fünfter Titel wirklich wichtiger als die Chance zu verpassen, die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen und deren Persönlichkeiten zu formen? Für andere vielleicht. Für Vettel, glaube ich, nicht.
Zumal sich die Frage nach dem fünften Titel angesichts der verfügbaren Optionen ohnehin nicht stellt. Außer Toto Wolff macht ihm überraschend ein Angebot. Die beiden leben in der Schweiz nicht weit voneinander entfernt. Man kennt sich, man schätzt sich. Zu Vettels 30er war Wolff sogar eingeladen - damals ein Grund für Schlagzeilen in der Presse. Vielleicht kommt es ja spät, aber doch zum Sensationstransfer? Die meisten Experten halten das für unwahrscheinlich.
Ich glaube: Vettel hat sich in Wahrheit schon ganz gut damit arrangiert, dass er 2021 zu Hause bleiben kann. Er genießt sein neues Leben. Endlich kann er wieder an seinen geliebten Motorrädern herumbasteln, sich selbst die Hände schmutzig machen. Geldsorgen hat er längst keine mehr. Vom Vermögen, das er in der Formel 1 verdient hat, können selbst seine Kinder und Enkel leben, ohne je einen Finger rühren zu müssen. Zumindest rein theoretisch. Denn so wird Vettel seine Kinder nicht erziehen.
Warum er seinen Rücktritt noch nicht öffentlich bekannt gegeben hat? Vielleicht, weil ich völlig danebenliege. Vielleicht aber auch nur, weil er sich ein Hintertürchen offenhalten möchte, für den Fall, dass sich bei Wolff überraschend doch noch was ergibt. Entweder als Teamkollege von Lewis Hamilton im Mercedes-Werksteam. Eine Jahrhundert-Konstellation! Oder auch in einem Team ohne Daimler-Support, das von Wolff geleitet und von Lawrence Stroll finanziert wird.
Unwahrscheinlich, stimmt schon. Aber hätten Sie vor einer Woche geglaubt, dass die "Silly Season" 2020 so schnell an Dynamik gewinnen würde? Eben.
Es bleibt spannend.
Ihr Christian Nimmervoll
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