Meinung: Die Formel 1 hat ein Verstappen-Problem - und ignoriert es
Weil Max Verstappens Fahrmanöver immer wieder ungestraft bleiben oder nur milde Sanktionen nach sich ziehen, wirkt es, als stehe er "über dem Gesetz"
(Motorsport-Total.com) - Seit Jahren wird Max Verstappen im Formel-1-Fahrerlager gefeiert - zu recht. Seine herausragenden Erfolge und seine beeindruckende Bilanz sind allseits bekannt (mehr dazu in der Formel-1-Datenbank!). Der Red-Bull-Fahrer fasziniert immer wieder mit seinem Können: Er dominiert Saisons, holt Polepositions, obwohl sein Auto dafür eigentlich nicht schnell genug ist, gewinnt als Außenseiter Rennen oder meistert scheinbar unmögliche Überholmanöver.
Verstappens fahrerisches Können ist außergewöhnlich. Man denke nur an den Start in Imola, als er sich gegen Oscar Piastri durchsetzte - ein Kunststück, das nur wenigen gelingt. Es war mutig, selbstbewusst, präzise und clever - genau die Fähigkeiten, mit denen Verstappen bekommt, was er will.
Doch es gibt auch eine Schattenseite bei Verstappen. Er macht nicht einmal ein Geheimnis daraus, aber viele in den Medien, seinem Team und seiner Fangemeinde tun so, als wüssten sie nichts davon - oder ignorieren sie bewusst. Diese dunkle Seite zeigte sich am Sonntag erneut unter großem Druck.
Bei Verstappen ist es nicht das erste Mal ...
Beim Grand Prix von Spanien forderte sein Team ihn auf, George Russell vorbeizulassen. Verstappen bremste daraufhin so stark ab, bis der Mercedes-Fahrer neben ihm war - und beschleunigte wieder, um dann den "Silberpfeil" zu rammen.
Kein ehrlicher Beobachter kann hier etwas anderes als Absicht erkennen. Das war eindeutig, ohne Interpretationsspielraum. Dennoch ahndeten die Sportkommissare das Ganze mit einer Strafe, wie sie üblicherweise für unbeabsichtigte Kollisionen im Eifer des Gefechts verhängt wird.
Ein einzelner solcher Vorfall ließe sich vielleicht noch verzeihen. Auch Sebastian Vettel überschritt 2017 in Baku eine Grenze, als er Lewis Hamilton absichtlich rammte. Dafür bekam er damals eine 10-Sekunden-Stop-and-Go-Strafe. Doch bei Verstappen ist es nicht das erste Mal.
Frühere rüde Manöver von Max Verstappen
Schon beim Grand Prix von Saudi-Arabien 2021 führte er in einem angespannten WM-Kampf einen "Bremstest" mit Lewis Hamilton durch - ein grober Versuch, seinen Rivalen aus dem Rennen zu nehmen.
Immer wieder drängt er Gegner von der Strecke, wie Hamilton 2021 in Brasilien oder Lando Norris 2024 in Mexiko. Ihm ist es egal, ob er dabei selbst Plätze verliert - solange sein Gegner noch mehr verliert.
Die Regelhüter haben es versäumt, das wiederholte und vorsätzliche Verhalten Verstappens angemessen zu thematisieren. Sie stellen keine Zusammenhänge her, nennen die Dinge nicht beim Namen. Ob absichtlich oder aus Nachlässigkeit - niemand weiß es.
Das Urteil aus Barcelona im Wortlaut
Die Entscheidung der Sportkommissare zum Vorfall mit Russell in Barcelona spricht Bände:
"Verstappen war offensichtlich unzufrieden mit der Anweisung seines Teams, die Position zurückzugeben. Auf dem Weg zu Kurve 5 verringerte er deutlich seine Geschwindigkeit, offenbar um Russell das Überholen zu ermöglichen. Nachdem Russell an der Einfahrt zu Kurve 5 vorne lag, beschleunigte Verstappen plötzlich und kollidierte mit Russell. Die Kollision wurde zweifelsfrei durch das Verhalten von Verstappen verursacht."
Das gravierende Problem ist: Die Sportkommissare zogen aus ihrer eigenen Argumentation keine logische Konsequenz. Alles deutete auf Absicht hin, doch Verstappen wurde nicht mit der Härte sanktioniert, die ein solches Verhalten im Rennsport verlangt.
Verstappen fährt hart - zu hart?
Eine Woche zuvor in Monaco hatten dieselben Sportkommissare Russell für ein absichtliches Abkürzen der Schikane - unsportlich, aber bei Weitem nicht so gefährlich - mit einer Durchfahrtsstrafe belegt.
In Barcelona war die Situation eindeutig, dennoch erhielt Verstappen nur eine vergleichsweise milde Strafe - wenn auch mit drei statt zwei Strafpunkten. Warum? Schwer zu sagen.
Seit seinem Debüt mit gerade einmal 17 Jahren polarisiert Verstappen stark. Viele behaupten - oder tun zumindest so -, das liege an seinem kompromisslosen Fahrstil, der Ausdruck seines unbändigen Siegeswillens sei.
Fotostrecke: Vom Bubi zum Weltmeister: Die Formel-1-Karriere des Max Verstappen
Von null auf Weltmeister in wenigen Jahren: Max Verstappens Motorsport-Laufbahn ist eine Karriere auf der Überholspur. Fotostrecke
Doch sein Verhalten geht oft weit über das hinaus, was man als "hart, aber fair" bezeichnen kann. Und er steht dazu - wie seine Aussagen nach den Rennen regelmäßig zeigen.
Verstappen weiß: Er kommt damit durch
Manche werden den Vorfall in Spanien als kurzen Moment der Unbeherrschtheit abtun. Doch er reiht sich nahtlos in eine ganze Liste ähnlicher Situationen ein, in denen Verstappen nicht die Strafe bekam, die angemessen gewesen wäre. Der viermalige Weltmeister weiß - ob bewusst oder unbewusst -, dass er mit solchen Aktionen meist durchkommt.
Einzelfall-Strafen lösen das Problem nicht, wie sein unverständliches Manöver in Barcelona wieder gezeigt hat. Verstappen nutzt die Grauzonen des Reglements konsequent aus, wenn es ihm passt oder wenn er sich ungerecht behandelt fühlt - und geht dabei deutlich über die Grenzen hinaus.
Es geht hier nicht um vier Räder außerhalb der Strecke, Spurwechsel beim Bremsen oder wer an der Kurve vorn lag. Es geht um gezielte Kollisionen - um unsportliches Verhalten in 800-Kilo-Autos mit bis zu 320 km/h.
Das Verstappen-Problem ist real - und die Regelhüter müssen endlich entschlossen handeln.