Alfa-Romeo-Teamchef Frederic Vasseur exklusiv: "Das Problem ist der Kartsport"
Frederic Vasseur spricht im Exklusivinterview über immer jünger werdende Formel-1-Piloten, die generelle Entwicklung der Königsklasse und die Zukunft von Alfa Romeo
(Motorsport-Total.com) - Frederic Vasseur hält seit 2017 die Zügel bei Sauber beziehungsweise Alfa Romeo in der Hand. Einen Namen machte sich der Franzose davor vor allem in Nachwuchsserien, wo er mit mehreren späteren Formel-1-Piloten und sogar Weltmeisters zusammenarbeitete. Unter anderem gewann er 2005 mit Nico Rosberg und ein Jahr später mit Lewis Hamilton den Titel in der GP2.
Unser italienischer Kollege Roberto Chinchero hat sich im Rahmen des Großen Preises von Monaco mit dem Alfa-Romeo-Teamchef getroffen und unter anderem über den Nachwuchs in der Königsklasse, die Entwicklung von Alfa Romeo und die generelle Richtung des Sports gesprochen. Außerdem verrät der 52-Jährige, wie er seine eigene Zukunft in der Formel 1 sieht ...
Frage: "Alfa Romeo scheint in diesem Jahr einen guten Schritt nach vorne gemacht zu haben. Was waren angesichts der Einschränkungen im Winter die wichtigsten Verbesserungen?"
Frederic Vasseur: "Es stimmt, dass die Situation etwas merkwürdig war. Aber wir konnten noch immer an den Bereichen arbeiten, in denen es die Regeln zugelassen haben - zum Beispiel an der Aerodynamik."
"Da haben wir einen guten Job gemacht, und ich denke, wir waren das Team, das im Vergleich zu 2020 den größten Schritt nach vorne gemacht hat. Das ist letztendlich aber nicht das Ziel. Das Ziel ist es, Punkte zu sammeln, und nicht das Team zu sein, dass die größten Fortschritte gemacht hat. Aber mit unserer Arbeit bin ich ziemlich zufrieden."
"Flexiwings": Vasseur betont Alfa-Romeo-Legalität
Frage: "In den vergangenen Wochen wurde viel über die sogenannten 'Flexiwings' gesprochen. Wie stehen Sie dazu?"
Vasseur: "Wenn man zehn Teams fragt, wird man wahrscheinlich zehn verschiedene Standpunkte hören. So wie ich das sehe, ist es sehr klar, dass wir nicht gegen die Regeln verstoßen. Die FIA hat sich die Regeln ausgedacht und aufgestellt, und wir haben die Autos auf Basis der Regeln gebaut, die veröffentlicht und abgesegnet wurden."
"Weil das in der Formel 1 die Praxis ist, arbeiten wir alle in jedem einzelnen Bereich am Limit. Das ist die Philosophie dieses Sports. Alle Teams arbeiten so, angefangen beim Gewicht der Autos, bis zum Design und in jedem einzelnen Aspekt. Dann, vermutlich nach der Beschwerde eines Teams, bekommen wir plötzlich eine neue Technische Richtlinie, die uns informiert, dass die Kontrolltests geändert werden."
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Frage: "Welche Auswirkungen kann diese neue Richtlinie haben?"
Vasseur: "Wenn man ein Auto so baut, dass es einem Wert x entspricht, der im Technischen Reglement festgelegt ist, und dieser Wert dann plötzlich um 50 Prozent erhöht wird, dann laufen alle, die sich am Limit befinden, Gefahr, diesen Wert zu verfehlen. Natürlich verstehe ich die Motivation dahinter, aber ich stimme nicht komplett zu."
"Solche Klarstellungen sollten nicht während der laufenden Saison sondern viel früher kommen. Außerdem, und da spreche ich nicht nur von unserem Team, reden wir immer darüber, dass wir versuchen sollten, die Kosten zu begrenzen. Und dann kommt eine Technische Richtlinie wie diese, die uns zwingen wird, neue Flügel zu entwerfen und zu bauen."
"Man darf nicht vergessen, dass wir seit einiger Zeit darüber diskutieren, ob wir das Personal an der Strecke um ein oder zwei Leute reduzieren. Und dann kommt eine Richtlinie, die mit viel höheren Kosten [von mehr als einer halben Million US-Dollar] verbunden ist."
Vasseur hofft auf neuen Vertrag mit Alfa Romeo
Frage: "Die Formel 1 prüft aktuell verschiedene Formate. Eines davon sind die neuen Sprintrennen. Finden Sie das gut oder gehen solche Ideen gegen die DNA der Formel 1?"
Vasseur: "Ich persönlich denke, dass das Sprint-Qualifiyng noch immer kompatibel mit dem Sport ist, weil das Ergebnis rein auf der Performance auf der Strecke basiert. Es ist keine 'Lotterie'. Beim Macau-Grand-Prix wird dieses Format bereits seit Jahren verwendet."
"Und wenn wir die Show am Rennwochenende verbessern können, ohne dass dabei der sportliche Gedanke verletzt wird, dann ist das okay für mich. Mir gefällt der Ansatz, dass wir uns in dieser Saison anschauen, wie es funktioniert, und dann werden wir eine Entscheidung für die Zukunft treffen. Es ist schwierig, einen genauen Eindruck zu bekommen, wenn man es nicht auf der Strecke ausprobiert."
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Frage: "Kommen wir zur Beziehung zwischen dem Sauber-Rennstall und Alfa Romeo. Wie sieht es da aus?"
Vasseur: "Wir sprechen mit der Stellantis-Gruppe über die Zukunft. Es laufen sehr konstruktive Gespräche, die darauf abzielen, den gemeinsamen Vertrag zu verlängern. Ich hoffe, dass es klappt. Aber es ist natürlich nicht meine Entscheidung."
Frage: "Hat sich an der Situation mit Stellantis etwas verändert?"
Vasseur: "Nein, aber natürlich befinden sie sich im Prozess der Umstrukturierung. Ich bin nach den letzten Statements von Stellantis im Hinblick auf Alfa Romeo sehr glücklich und zuversichtlich. Sie wollen [die Marke] unterstützen und wissen, dass Alfa Romeo als Marke einen großen Wert für die Gruppe hat."
"Ich persönlich denke, dass es auch eine tolle Ergänzung für die Formel 1 ist. Wir sprechen über eine ikonische Marke, die bei der Geburtsstunde dieses Sports auf der Strecke war. Ich für meinen Teil hoffe, dass wir uns einigen und diesen Weg weiterhin beschreiten können."
Giovinazzi bereit für Rolle des Teamleaders?
Frage: "Antonio Giovinazzi macht den Eindruck, dass er in diesem Jahr einen wichtigen Schritt gemacht hat. Stimmen Sie da zu?"
Vasseur: "Ja, er hat eindeutig einen Schritt nach vorne gemacht. Aber schon in der zweiten Hälfte 2020 war er auf diesem Weg. Im Qualifying sehen wir seine großartige Pace. Nur in Imola hatte er ein Problem [mit Masepin], davon abgesehen war er immer besser als sein Teamkollege."
"Stabilität ist wichtig für uns, und Antonio verbessert sich auch in dieser Hinsicht. Ich weiß nicht, ob 'Pech' das richtige Wort ist. Aber in den ersten Saisonrennen hatten wir zu viele Probleme, die ihn um die Möglichkeit gebracht haben, Punkte zu sammeln. Aber die Pace war immer da, und in gewisser Weise ist das der wichtigste Aspekt, wenn man bedenkt, dass noch viele Rennen vor uns liegen."
Frage: "Es ist kein Geheimnis, dass Kimi Räikkönen langsam am Ende seiner Zeit in der Formel 1 ankommt. Wäre Antonio bereit, das Team neben einem jungen Fahrer anzuführen?"
Vasseur: "Das denke ich schon, denn Antonio liefert uns solides Feedback. Vielleicht war es in der Vergangenheit eines seiner Probleme, dass er sich auf Kimi als Referenz konzentriert hat."
"Eine große Veränderung war die Entscheidung, sich nur auf sich selbst und seine eigene Arbeit zu fokussieren. Das ist nicht selbstverständlich, denn wir wissen, dass der erste Referenzwert für jeden Fahrer der Teamkollege ist. Aber Antonio hat seine Herangehensweise geändert, und wir sehen die Ergebnisse. Er ist jetzt in einer soliden Position, und das ist auch für das Team wichtig."
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Frage: "Es ist also nicht unmöglich, dass Antonio einen jüngeren Teamkollegen bekommt?"
Vasseur: "Nein. Nichts ist unmöglich. Aber es ist noch etwas zu früh, um über die Fahrer für 2022 zu sprechen. Antonio macht einen guten Job, und es liegen noch 19 Rennen vor uns."
Frage: "Verraten Sie uns etwas über die Rolle von Robert Kubica."
Vasseur: "Wir haben zuletzt in Barcelona zwei Tage die 18-Zoll-Reifen von Pirelli getestet. Das Feedback von Robert ist immer exzellent. Sein Feedback war schon immer mega, und das ist es noch immer. Für uns ist es wichtig, Robert im Team zu haben. Er hat ein sehr gutes Verständnis für die Performance des Autos. Er sagt klar [was er denkt], und das ist wichtig, weil es uns zeigt, wo wir uns verbessern müssen. Für uns ist er ein toller Mehrwert."
Formel 1 bald für alle Teams wirtschaftlich nachhaltig?
Frage: "In der Formel 1 wird immer wieder über das Businessmodell der Teams diskutiert. Eigentlich sollten vor allem die kleineren Rennställe die Möglichkeit haben, am Ende des Jahres profitabel zu sein. Hätte ein neues Formel-1-Team heute die Chance, langfristig zu überleben?"
Vasseur: "Es gibt einen großen Unterschied zwischen überleben und Profit machen. Das erste Ziel ist es, die Verluste zu reduzieren und [wirtschaftlich] nachhaltig zu werden."
"Ich denke, dass wir da in den vergangenen 24 Monaten einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht haben. Die Verteilung der Preisgelder hat sich aus Sicht der kleineren Teams verbessert. Natürlich geht es immer noch besser, aber die Vereinbarung aus dem vergangenen Jahr ist der größte Fortschritt im vergangenen Jahrzehnt. Ich bin außerdem überzeugt, dass die Preisgelder und die Einnahmen der Formel 1 weiter wachsen werden, sobald COVID vorbei ist."
"Wenn dieser Aspekt mit der Reduzierung der Kosten zusammenfällt, dann könnte sich ein Szenario ergeben, das potenzielle Gewinne ermöglicht. Ich bin zuversichtlich, dass die Formel 1 für Sponsoren und Investoren immer interessanter wird. Wenn ich mit Kollegen spreche, dann bestätigt das, dass Firmen jetzt ein größeres Interesse daran haben, in den Sport einzusteigen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Ich denke, wir gehen in die richtige Richtung."
Frage: "Sauber hat auch Geschäftsfelder außerhalb der Formel 1. Kann auch das ein Weg für Teams sein, wirtschaftlich nachhaltig zu werden?"
Vasseur: "Natürlich. Wir haben diese Richtung in den vergangenen Monaten eingeschlagen, um das Unternehmen und nicht nur das Team weiterzuentwickeln. Wir wollen von der Formel 1 profitieren und uns auch extern betätigen."
"Es ist kein schneller Prozess und nicht leicht, weil es Formel-1-Teams meistens nicht gewohnt sind, im 'normalen Leben' zu operieren [lacht]. Wir mussten unsere Mentalität etwas ändern, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Die Arbeit für 'dritte Parteien' wird im Unternehmen Sauber immer wichtiger. Und dieses Wachstum wird bald auch in der Bilanz eine wichtige Rolle spielen."
Frage: "Sie haben die neue Verteilung der Preisgelder aus Sicht der kleinen Teams gelobt ..."
Vasseur: "Es waren lange Verhandlungen [grinst]. Und natürlich hat jede Partei am Tisch versucht, die eigenen Interessen zu schützen. Aber letztendlich haben wir eine Lösung gefunden, und ich denke, dass es auch für uns eine gute Lösung war. Die größte Herausforderung ist es nun, die Gesamteinnahmen der Formel 1 zu erhöhen."
"Daran arbeiten alle. Ich würde gerne hervorheben, dass die Formel 1 im Vorjahr bei keinesfalls leichten Bedingungen einen großartigen Job gemacht hat. Wir waren der erste globale Sport, der den Betrieb wieder aufgenommen hat und auf der Strecke war. Und in diesem Jahr ist es ermutigend, das wachsende Interesse von Sponsoren und Promotern zu sehen."
Nachwuchsserien heute "viel professioneller"
Frage: "Sie sind einer der größten Experten im Paddock, wenn es um junge Fahrer geht. Finden Sie den Trend gut, dass in den vergangenen Jahren viele Fahrer in die Formel 1 geholten wurden, die zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal 20 Jahre alt waren?"
Vasseur: "Das Problem ist nicht die Formel 1 sondern der Kartsport. Heute kann ein 12-Jähriger bereits an der Weltmeisterschaft teilnehmen. Und mit 13 oder 14 haben sie ihre Reise dort abgeschlossen. Oder zumindest haben sie den Eindruck, dass sie im Kart alles erreicht haben."
"An diesem Punkt wollen sie in den Formelsport wechseln. Und oft finden sie den Promoter einer Meisterschaft, der sie für 14- oder 15-Jähirge freigibt. Mit 16 fahren sie dann schon in der Formel 3. Theo Pourchaire ist ein gutes Beispiel. Ich will mich nicht wie ein alter Mann anhören, aber vor einiger Zeit habe ich mit Giedo van der Garde darüber gesprochen. Er hat mich daran erinnert, dass er Kart-Weltmeister war, als er so alt wie Pourchaire heute war."
"Das ist das Problem. Und paradoxerweise denke ich, dass es auch im Interesse des Kartsports wäre, die jungen Leute etwas länger zu halten. Das heißt allerdings nicht, dass die Jungs nicht [auf die Formel 1] vorbereitet sind - im Gegenteil. Die Nachwuchsserien sind viel professioneller geworden. Dadurch haben selbst sehr junge Fahrer die Möglichkeit, einen guten Job zu machen, wenn sie in die Formel 1 kommen. Das ist ziemlich beeindruckend."
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Frage: "Der beeindruckendste Aspekt ist vielleicht gar nicht der Speed auf der Strecke sondern einen 18- oder 19-Jährigen zu sehen, der einen Haufen Ingenieure um sich herum hat und Feedback liefert ..."
Vasseur: "Für diese Jungs ist der Motorsport, trotz all seiner Probleme, eine Art Komfortzone. Es ist ihre Welt. Sie sprechen über Racing und machen das bereits seit vielen Jahren."
"Sie sind daran gewöhnt, sich mit diesen Problem herumzuschlagen. Selbst wenn sie mit zehn Ingenieuren an einem Tisch sitzen, dann ist es für einen jungen Fahrer das Wichtigste, eine starke Verbindung mit seinem Renningenieur zu haben. Und das kennen sie bereits, daran sind sie gewöhnt. Für diese Jungs ist es vermutlich schwieriger, mit dem Druck der Medien als mit technischen Problemen umzugehen."
"Die Medienwelt, die in der Formel 1 existiert, haben sie zuvor noch nie erlebt. Paradoxerweise liegen die größten Probleme für einen jungen Rookie außerhalb und nicht in der Garage ..."
Vasseurs Zukunft: "Sehe keinen Grund, warum ich wechseln sollte"
Frage: "In den vergangenen Jahren waren sie auch für eine Rolle bei Mercedes oder Renault im Gespräch. Hat sie so eine Herausforderung nicht gereizt?"
Vasseur: "Gespräche sind essentiell für das Leben in der Formel 1. Wenn Journalisten mich fragen 'Haben Sie mit anderen Fahrern gesprochen?', dann antworte ich: 'Ja, natürlich!' Wir leben zusammen im Flieger, in Hotels, im Paddock. Wir sehen uns fast überall."
"Es ist wichtig, sich etwas aufzubauen. Und ich denke, dass ich mit Alfa Romeo und Orlen die Möglichkeit dazu habe. Die nächsten 24 Monate werden entscheidend sein, weil uns die Herausforderung des neuen Reglements erwartet. Außerdem müssen wir die Vereinbarung mit dem Sponsor erneuern. Wenn wir hier etwas Solides aufbauen können, dann sehe ich keinen Grund, warum ich wechseln sollte."
Frage: "Wo sehen sie Fred Vasseur in fünf Jahren? Noch immer in der Formel 1?"
Vasseur: "In fünf Jahren? Da muss ich bei Olympia in Paris mitmachen! Ich weiß noch nicht, in welcher Sportart, aber ich muss dabei sein! [lacht] Aber um zur Frage zurückzukommen: Einerseits wächst die Anzahl der Grands Prix. Es wird immer anstrengender."
"Aber die wahre Motivation kommt von der Leidenschaft fürs Racing. Das ist für mich, für Sie, für alle im Paddock gleich. Solange man die Leidenschaft hat, sehe ich es nicht als Job. Ich denke also, dass ich noch etwas länger dabei sein werde."
Hinweis: Dieses Interview ist zuerst am 29. Mai auf der italienischen Edition von 'Motorsport.com' erschienen. Zur Originalversion geht es hier!