Norris' Malaysia-2016-Moment: "Man lässt einen Fahrer im Stich"
Toto Wolff fühlt sich beim Ausfall von Lando Norris an Malaysia 2016 erinnert, Andrea Stella ist derweil überzeugt, dass der Brite gestärkt hervorgehen wird
(Motorsport-Total.com) - Rückblick: Wir schreiben den 2. Oktober 2016. Lewis Hamilton führt den Großen Preis von Malaysia souverän an und hat das Rennen im Griff, bis in Runde 41 plötzlich der Motor im Mercedes-Heck zu rauchen anfängt. "Oh no, no", hört man beim Briten am Funk, bevor er seinen Silberpfeil abstellen muss.
Es ist diese Szene, die dem Briten am Ende des Jahres die WM kostet. Statt die WM-Führung zu übernehmen, büßt er weitere 15 Zähler auf seinen Teamkollegen Nico Rosberg ein, der an diesem Tag nur Dritter wird. Am Ende verliert Hamilton die Meisterschaft um fünf Punkte. "Daran hat mich das heute etwas erinnert", sagt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff am Sonntag in Zandvoort.
Denn ähnlich erging es in den Niederlanden Lando Norris. Der McLaren-Pilot rollte acht Runden vor Schluss ebenfalls mit rauchendem Auto aus und musste von den Dünen aus zusehen, wie Teamkollege Oscar Piastri das Rennen gewann und seinen Vorsprung in der WM deutlich ausbaute.
Neun Zähler betrug dessen Vorsprung vor dem Wochenende - mittlerweile sind es 34.
"Man lässt einen Fahrer im Stich"
"Heute hatten wir offenbar ein technisches Problem mit der Zuverlässigkeit, und das ist immer enttäuschend", sagt McLarens Teamchef Andrea Stella nach dem Rennen. "Aber ich würde sagen, es ist in diesem Fall sogar noch unangenehmer, weil es eine Situation betrifft, in der wir als Team eigentlich so neutral wie möglich bleiben wollten."
Für ein Team ist das im Grunde der Worst-Case: Man beraubt einen seiner Fahrer seiner Chancen auf den WM-Titel, ohne dass dieser etwas dafür kann. "Man lässt einen Fahrer im Stich", kann sich Wolff noch gut an das Gefühl von Malaysia 2016 erinnern.
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"Natürlich kann man sagen: Es ist eine lange Saison, das war nur ein einzelner Fall. Aber Lewis hat damals seinen Job gemacht, er führte das Rennen an, hatte sich einen Vorsprung in der WM herausgearbeitet - und dann fliegt uns ein Motor um die Ohren", so der Österreicher.
Wolff erinnert sich, dass das damals nicht nur hart für Hamilton selbst war, sondern auch hart für die Beziehung zwischen Fahrer und Team. "Ich glaube, das war die Zeit, in der ich dieses berühmte Küchengespräch mit ihm hatte. Wir haben ein paar Wochen nicht miteinander gesprochen, bis ich ihm erklärte, dass ich keine Scheidung will, sondern dass wir reden müssen."
Stella lobt "reife Persönlichkeit"
Die Frage ist, wie Lando Norris diesen Rückschlag in der WM verkraftet. Andrea Stella ist jedenfalls überzeugt, dass sein Schützling Zandvoort gut wegstecken wird und weiter hinter dem Team steht. "Ich denke, Lando hat das bereits bewiesen - allein mit der Botschaft, die er direkt nach dem Ausfall am Funk gegeben hat", betont der Teamchef.
"Er hat die Situation sofort verarbeitet und direkt seine konstruktive Einstellung beibehalten. Er hat gesagt: 'Das war außerhalb unserer Kontrolle, einfach Pech, wir konnten nichts tun, wir kämpfen weiter.' Das hat er selbst gesagt", so Stella.
Ihn hätte es auch überrascht, wenn es anders gewesen wäre: "Er ist eine sehr reife Persönlichkeit, ein sehr fairer, sehr ausgeglichener Fahrer", lobt er. Wir werden ihn maximal unterstützen, damit er in diesem Kampfgeist bleibt. Aber ehrlich gesagt denke ich, das kommt bei ihm ganz von allein."
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Stella glaubt, dass man ab sofort vielleicht sogar "die beste Version von Lando" sehen wird, weil er jetzt wirklich alles aus seinem Potenzial herausholen muss. "Ich freue mich darauf, Lando in den kommenden Rennen zu sehen. Ich bin sicher, das wird ein großartiges Spektakel für die Formel 1 - und es wird, wenn überhaupt, die Konkurrenz mit Oscar noch spannender machen."
Denn die WM ist natürlich noch nicht entschieden. 249 Punkte gibt es in den letzten neun Rennen inklusive Sprints noch zu holen, und Norris kann auch noch aus eigener Kraft Weltmeister werden.
Doch dafür muss der Brite im Grunde bei fast allen Rennen vor seinem Teamkollegen landen. "Ich werde versuchen, jedes Rennen zu gewinnen", sagte er und kündigte an, dass er jetzt frei auffahren könne, weil sein Rückstand schon so groß ist.
Muss Norris jetzt mehr Risiko gehen?
Wird das für McLaren vielleicht sogar noch zum Problem, da Norris nichts mehr zu verlieren hat und mehr Risiken eingehen kann und muss? Stella winkt ab: "Wir sprechen hier von Lando. Er ist einer der fairsten, ausgeglichensten - fast möchte ich sagen: vertrauenswürdigsten - Menschen überhaupt, bevor wir überhaupt vom Fahrer sprechen."
"Wenn er also sagt, er geht jetzt 'all in' oder was auch immer er gesagt hat, dann bedeutet das nur, dass er versucht, noch mehr aus seinem unglaublichen Potenzial herauszuholen", so der Italiener.
"Ich freue mich darauf zu sehen, was Lando in dieser Situation zeigen kann, denn wir wissen, dass sein Talent riesig ist. Und ich bin sicher, dass ihn diese WM-Situation zusätzlich motivieren wird, noch mehr herauszuholen."
Für McLaren sei dabei eines wichtig: Dass man weiterhin so arbeitet wie bisher, neutral zu beiden Fahrern ist und ihnen ermöglicht, ihre eigenen Ambitionen umzusetzen - und das auf faire, sportliche Weise.
Den Defekt von Norris werde man aufarbeiten, also die Ursachen analysieren, das Problem beheben und sicherstellen, dass es in Zukunft nicht noch einmal vorkommt. "Ich denke nicht, dass sich an der Herangehensweise des Teams durch die Situation in Zandvoort irgendetwas ändern wird."