Boxenstopp-Timing analysiert: Verstappen-Funkspruch kostet Führung
Max Verstappens Funkspruch, wonach seine Reifen anfangen abzubauen, hat ihm im Nachhinein betrachtet wahrscheinlich die Führung in Baku gekostet
(Motorsport-Total.com) - Max Verstappen hat von seinem Red-Bull-Team nach dem Safety-Car-Pech in Baku gefordert, das missglückte Timing seines ersten Boxenstopps genau zu analysieren. Doch die Aufarbeitung der Situation ergibt, dass der zu dem Zeitpunkt Führende einfach Pech hatte und nicht auf menschliches Unvermögen zurückzuführen ist.
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Max Verstappens Boxenstopp kostete ihn die Führung beim Grand Prix von Aserbaidschan Zoom Download
Der Unfall von Nyck de Vries in Kurve 5/6 passierte in Runde 10. Verstappen hatte in Runde 6 noch bis zu 1,4 Sekunden Vorsprung auf Sergio Perez. Zum Zeitpunkt, als de Vries den AlphaTauri in die Mauer setzte, war Perez aber bis auf 0,8 Sekunden dran - und damit innerhalb des DRS-Fensters. Der Mexikaner war zu dem Zeitpunkt der schnellere Red-Bull-Fahrer.
Kurz vor dem Crash hatte Verstappen am Boxenfunk angemeldet, dass er zeitnah von Medium auf Hard wechseln möchte: "Die Reifen sind nicht fantastisch", teilte er da mit, und: "Ich kämpfe in Kurve 2 und 3 ziemlich stark."
Sein Renningenieur Gianpiero Lambiase versuchte ihn zu beruhigen: "Du bist derzeit Torque 6, Max." Doch das wollte Verstappen gar nicht mehr hören. Er fiel Lambiase ins Wort: "Ja, Kumpel, aber ich rutsche!"
Der Red-Bull-Kommandostand reagierte prompt auf den Wunsch des Superstars: "Okay. Box und Pit confirm, Max. Box und Pit confirm." Da fuhr Verstappen gerade mit Vollgas aus Kurve 19 heraus und hatte nur noch wenige Sekunden bis zur Boxeneinfahrt.
De-Vries-Crash bringt Red Bull aus dem Konzept
Genau 22 Sekunden davor war de Vries bei Kurve 5 eingeschlagen und hatte sich innen das linke Vorderrad abgefahren. Drei Sekunden später kam de Vries in Kurve 6 zum Stehen. Es wurden gelbe Flaggen geschwenkt.
Dann passieren zwei Funksprüche praktisch zeitgleich: Erst wird de Vries angefunkt, er möge den Rückwärtsgang einlegen, um weiterzufahren; und eine Sekunde später wird Verstappen von Red Bull an die Box beordert.
Erst acht Sekunden nach dem Boxenbefehl bei Red Bull meldet de Vries endgültig, dass er nicht weiterfahren kann: "Mein linkes Rad ist gebrochen, Kumpel."
Hat sich die Rennleitung zu lang Zeit gelassen?
Es dauert von dem Moment an weitere 37 Sekunden, bis Rennleiter Niels Wittich die Entscheidung trifft, aus der gelben Flagge eine Safety-Car-Phase zu machen. Da hat Verstappen aber seinen Boxenstopp gerade erledigt - im für ihn schlechtestmöglichen Zeitfenster.
"Das Safety-Car war einfach Pech", sagt Teamchef Christian Horner. "Im Nachhinein betrachtet wäre es klüger gewesen, ihn noch eine Runde fahren zu lassen."
"Aber wir entschieden uns, ihn reinzuholen, weil er gerade anfing, mit seinen Hinterreifen zu kämpfen, und weil Checo unmittelbar hinter ihm war. Aus strategischer Sicht wäre es der optimale Zeitpunkt für einen Stopp, dachten wir in dem Moment."
Als Verstappen reinbeordert wurde, waren die Chancen hoch, dass Wittich das Safety-Car schon aktiviert haben würde, wenn Verstappen in Richtung Boxengasse abbiegt. Wäre das so gekommen, wäre Red Bulls Timing voll aufgegangen.
Red Bull: Es war kein Poker auf ein Safety-Car
Dabei betont Horner, dass Red Bull Verstappen gar nicht in erster Linie wegen eines antizipierten Safety-Cars reinholte, sondern vielmehr wegen der vorangegangenen Beschwerden über den Zustand der Hinterreifen.
"De Vries hatte, nach allem, was wir sehen konnten, alle vier Räder am Auto, er hatte nicht eingeschlagen, und wir dachten, er würde den Rückwärtsgang einlegen und weiterfahren. Wir hätten nie damit gerechnet, dass ein Safety-Car kommt."
Mit der Variante, ein Auto reinzuholen (nämlich das, bei dem der Reifenverschleiß schon weiter vorangeschritten war) und eins weiterfahren zu lassen, war man für alle Eventualitäten auf der sicheren Seite.
Denn wären beide an der Box vorbeigefahren, hätte Wittich das Safety-Car aktiviert und wäre Leclerc dann zum Reifenwechsel gekommen, "dann überholt Leclerc plötzlich alle beide", sagt Horner.
Horner: Konnten Unfall nicht gut genug sehen
"Das Problem war wirklich, dass wir die Situation um de Vries nicht so gut sehen konnten. Die Situation wurde nur kurz eingeblendet, und da sah man die Bremsspuren. Es sah so aus, als habe er sich verbremst und wäre nicht eingeschlagen."
"Wenn jemand einschlägt, rechnest du mit einem Safety-Car, aber dafür gab es im ersten Moment keine Anzeichen. Dass seine Spurstange gebrochen war, konnten wir erst später in der Wiederholung sehen", seufzt er.
Wünscht sich Max einen anderen Teamkollegen?
Das ist zumindest die Theorie von Ralf Schumacher. Der Sky-Experte glaubt, dass es brodelt unter der Oberfläche des Red-Bull-Teams. Weitere Formel-1-Videos
Dazu kommt: Während Medienvertreter hinterher den Luxus haben, Bild-im-Bild-Sequenzen, Boxenfunk und Timingdaten in aller Ruhe mit mehreren Monitoren analysieren zu können, notfalls mehrmals, müssen die Red-Bull-Mitarbeiter am Kommandostand binnen Sekunden entscheiden, was zu tun ist.
"Double-Stack" wurde gerade diskutiert
Horner erklärt: "Die Strategen geben eine Empfehlung ab. Die Teammanager entscheiden über den Boxenstopp und schauen sich in so einer Situation die Strecke an, ob es bei einer gelben Flagge bleiben oder ob es wahrscheinlich zu einem Safety-Car kommen wird. Der Renningenieur auch. Das ist alles ein geregelter Prozess."
Und er verrät: "Wir haben uns zu dem Zeitpunkt, als es passiert ist, gerade darüber unterhalten, ob wir beide gleichzeitig zum Boxenstopp holen sollen. Ich würde sagen, es war einfach so eine Situation, in der man mal Glück hat und mal Pech."
"Aber Max weiß, dass er heute Pech hatte und dass es auch anders hätte laufen können", sagt Horner. "Jetzt werden wir uns anschauen, ob wir daraus etwas für die Zukunft lernen können. Das ist für uns immer das Wichtigste."
Dem Team macht er keinen Vorwurf: "Es sind nur Sekundenbruchteile. Du siehst ein Auto und Bremsspuren, du siehst, es hat nicht eingeschlagen, du denkst, der wird einen Gang einlegen und weiterfahren. Im Nachhinein redet es sich dann viel leichter. Hätte, wäre, wenn. Das bringt alles nichts."