• 10. März 2022 · 20:53 Uhr

F1-Technik 2022: Was über den Mercedes-Seitenkasten im Reglement steht

Der Mercedes W13 schockt bei den Formel-1-Testfahrten mit einem neuen Seitenkasten-Konzept - Wie man sich ans Reglement hält und es trotzdem aushebelt

(Motorsport-Total.com) - Mit einem Seitenkasten, der kaum noch als solcher zu erkennen ist, hat Mercedes die Gemüter in der Formel 1 erregt. Das extreme Design des W13 hebelt vieles aus, was sich die Macher des Reglements überlegt haben - und sorgte entsprechend binnen kürzester Zeit für Unmut bei der Konkurrenz.

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Die Hintergründe zum neuen Seitenkasten-Konzept des Mercedes W13 Zoom Download

Doch was sagt das Reglement zu den Seitenkästen, die ein wenig aussehen, als wäre die Luft aus ihnen herausgelassen worden? Zunächst einmal nicht sonderlich viel. Denn das Einzige, was die Regeln vorschreiben, sind seitliche Crash-Strukturen (Side Impact Structure; SIS).

Dabei handelt es sich um Streben, die wie ein nach außen stehender Zapfen aussehen. Diese "Zapfen" sind ein Standardteil und bereits seit 2014 vorgeschrieben. Sie wurden damals eingeführt, um extremen Designs wie dem U-förmigen Seitenkasten des McLaren MP4-26 von 2011 zu begegnen.

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Seitenkasten McLaren MP4-25 (2019) und MP4-26 (2011) Zoom Download

Formel-1-Fahrzeuge müssen auf jeder Seite zwei Solche Zapfen aufweisen. Natürlich werden sie von der Karosserie aerodynamisch günstig verpackt und sind so von außen nicht sichtbar. Seit Einführung der SIS-Zapfen entfällt der Seitenaufpralltest, weil ihre Stärke eine bekannte Größe ist.

Einer davon befindet sich weiter unten und ist hier nicht das Thema. Der obere Zapfen hingegen schon. Die Regelmacher hatten sich vorgestellt, dass der SIS-Zapfen in das Seitenkasten-Design eingebaut wird. Das ist auch bei den bisherigen Fahrzeugdesigns der Fall gewesen - einschließlich des Mercedes bei den Testfahrten in Barcelona.

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Der SIS-"Zapfen", den man so eigentlich nie sieht Zoom Download

Doch nun hat der Titelverteidiger in der Konstrukteurswertung den Spieß komplett umgedreht. Der Seitenkasten, beziehungsweise das, was davon übrig ist, hat gar keinen Kontakt mehr zum SIS-Zapfen. Dieser steht stattdessen innerhalb einer Art Tragfläche völlig allein im Wind herum. Selbst Ross Brawn, dem einst mit dem Doppeldiffusor ein Coup gelang, zollt Respekt.

Wolff absolut sicher: Das ist legal

Während Red-Bull-Teamchef Christian Horner schon nach dem ersten Hinsehen die Legalität dieses Konzepts in Frage stellte (und das später wieder dementierte), ist sich Toto Wolff sicher: Das Konzept ist so legal wie es nur geht.

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Der SIS-"Zapfen", den man so eigentlich nie sieht Zoom Download

"Wenn man mit einer Innovation aufwartet, gibt es immer diese Art Debatte, wie wir sie jetzt haben. Das haben wir bereits erwartet", sagt er auf Nachfrage von 'Motorsport.com Global'. Er verweist auch darauf, dass diese Lösung in engem Austausch mit dem Automobil-Weltverband FIA erarbeitet worden ist.

"Dieser Prozess ist eindeutig. Wenn man in eine gewisse Entwicklungsrichtung mit dem Team geht, bezieht man die FIA in diesen Prozess mit ein. Man tauscht mit ihnen CAD-Daten aus [zeigt den Verantwortlichen also das Teil im Computer] und sie schauen sich das an."

Die FIA hat grünes Licht gegeben, weil das Wording des Reglements eingehalten wird. Doch es gibt seit diesem Jahr eine neue Regel, die die Lösung noch stoppen kann: Regeländerungen können während der Saison durchgedrückt werden, wenn acht von zehn Teams zustimmen. Bislang brauchte es die Zustimmung aller Teams.

"Meines Erachtens hätten wir beim alten System bleiben sollen. Da konnte man eine Innovation nicht einfach wieder verbieten, wenn sie dem Reglement entsprochen hat. Ich denke, die FIA und das Formula One Management werden diese Sache im Sinne des Sports behandeln. Meines Erachtens ist es ist okay, weil wir uns mit der FIA ausgetauscht haben."

50 Millimeter entfachen Design-Revolution

Wie ist Mercedes auf den Trick gekommen? Ausschlaggebend war eine Reglementsänderung, der zufolge der obere SIS-Zapfen mindestens 50 Millimeter höher gesetzt werden muss als zuvor. Damit endete im Winter die Ära der Seitenkastenprofile, die Ferrari 2017 eingeführt hat. Dabei wurde die obere SIS so tief wie möglich angesetzt, was ein aerodynamisch günstiges Profil schuf.

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Die "Tragfläche" mit integrierter SIS und Eingang zum Seitenkasten am Mercedes W13 Zoom Download

Mercedes hat nun den Spieß komplett umgedreht: Wenn wir schon höher gehen müssen, dann richtig. So liegt der SIS-Zapfen noch höher als er eigentlich müsste - weil das komplette aerodynamische Konzept in diesem Bereich auf den Kopf gestellt wurde. Den riesigen freigewordenen Raum durch den "eingedrückten" Seitenkasten kann Mercedes nun aerodynamisch nutzen.

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Der neu geformte und platzierte Rückspiegel des Mercedes W13 Zoom Download

Dem Seitenkasten vorgelagert sind nach unten gerichtete Flügelchen, die zusätzliche Luft in die minimalistische Öffnung des Seitenkasten befördern. Auf der Hülle des SIS-Zapfens stechen mehrere Vortextgeneratoren ins Auge (blauer Pfeil). Diese interagieren mit den neu geformten und positionierten Rückspiegeln. Am Cockpitrand leiten gekrümmte Finnen den Luftstrom in die gewünschte Richtung, was auch schon bei anderen Teams zu sehen war.

Anleihen von 1973 und Herausforderung Kühlung

Zurück zu den Seitenkästen: Mercedes hat ein Konzept mit eng am Chassis anliegenden Seitenkastenöffnungen aus der Schublade geholt, das über Jahrzehnte nicht mehr in der Formel 1 zu sehen gewesen ist. Prominent war es beispielsweise beim Ferrari 640 von 1989 (im Bild im Vergleich mit dem McLaren MP4/5 desselben Jahres).

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Vergleich zwischen dem Ferrari 640 und dem McLaren MP4/5 von 1989 Zoom Download

Die Dreiecksform des Seitenkastens erinnert hingegen an den Brabham BT42 von 1973 (!), der mit einer ähnlichen Philosophie aufwartete.

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Brabham BT42 von 1973 Zoom Download

Mit der neuen Philosophie stellte sich natürlich die Frage, wie die die Komponenten zur Kühlung angeordnet werden sollten. Viel Platz ist in diesem "Seitenkasten" ja nicht mehr vorhanden. Hier bedient sich Mercedes einigen Konzepten aus der frühen Zeit der Hybridära, die zuletzt wieder an Fahrt aufgenommen haben.

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Der Ladeluftkühler auf der Airbox beim McLaren MP4-30 von 2015 Zoom Download

Konkret geht es darum, möglichst viele Kühlelemente möglichst zentral anzuordnen. Im Jahr 2015 waren der Toro Rosso STR10 und der McLaren MP4-30 Vorreiter in dieser Philosophie. Der Ladeluftkühler "wickelt" sich bei dieser Lösung quasi um die Airbox herum.

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Der Ladeluftkühler am Toro Rosso STR10 von 2015 Zoom Download

Das ist schlecht für den Schwerpunkt, weil ein schweres Teil relativ weit oben platziert wird. Doch es erlaubt enormen aerodynamischen Spielraum durch die schmaleren Seitenkästen. Zuletzt hat Alpine mit seiner dicken Airbox diese Lösung wieder aufgegriffen, aber auch Red Bull machte sich ein solches Konzept beim Gewinn des Fahrertitels durch Max Verstappen zunutze.

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Der SIS-"Zapfen" ist in der Tragfläche eingebaut, die keinen Kontakt mehr zum Seitenkasten hat Zoom Download

Damit es unter dem Carbonkleid nicht zu warm wird, hat Mercedes zwei große Felder Kiemen zur Entlüftung angelegt. Die vorderen, am oberen Ende des Seitenkastens angebrachten Kiemen wurden zwischenzeitlich mit Tape abgeklebt. Weitere Kiemen befinden sich auf der Motorabdeckung. Je nach Streckenkonfiguration und Außentemperaturen dürfte es im Laufe des Jahres diesbezüglich unterschiedliche Lösungen geben.

Weitere Mercedes-Updates

Während der Seitenkasten alle Blicke auf sich zieht, gibt es noch weitere Neuerungen am Paket des Mercedes W13. So wurden der Frontflügel und der Unterboden ebenfalls Änderungen unterzogen.

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Fronflügelvergleich beim Mercedes W13: Oben Barcelona, unten Sachir Zoom Download

So gibt es eine subtile Änderung an der Form des oberen Fronflügelblattes (roter Pfeil). Hier wurde eine kleine Delle eingefügt, um den Luftstrom direkt vor dem Vorderreifen zu ändern.

Außerdem hat das Team die Zentralsektion des Flügels stark verändert (blauer Pfeil). Das ist die wesentlich wichtigere Änderung. Das stark geschwungene Innenprofil aus Barcelona wurde nun durch eine konventioneller anmutende Lösung ersetzt.

Beim Unterboden gibt es zahlreiche Änderungen. Am sichtbarsten sind Veränderungen am äußeren Rand, der sich gegenüber Barcelona in seiner Form verändert hat. Unter anderem wurde die Wellensektion vom ersten Test fast komplett aufgegeben.

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Die vorderen Kiemen wurden beim Bahrain-Test zeitweise abgedeckt Zoom Download

Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden Tagen hier noch etwas nachkommt. Bislang fehlt noch der Flügel am Rand des Unterbodens, der in den Regularien dieses Jahr erlaubt ist.

Sehr auffällig ist eine neue Aufhängung für den Unterboden mittels einer Metallstrebe. Diese soll ein Verbiegen des Unterbodens verhindern und damit dem Schwimmen, im Formel-1-Engllisch auch "Porpoising" genannt, entgegenwirken. Damit hatten fast alle Teams in Barcelona noch zu kämpfen.

Dieses Problems hat sich auch die FIA angenommen, die mit dem Gedanken spielt, eine solche Aufhängung vorzuschreiben, um diesen Problemen zu begegnen.

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