• 31. Oktober 2022 · 06:00 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Niels Wittich

Warum Niels Wittich seine Sache gut, aber nicht gut genug macht, sich Michael Masi ins Fäustchen lacht und was das alles mit Charlie Whiting zu tun hat

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

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Niels Wittich, ein Deutscher, ist derzeit alleiniger Chefrennleiter in der Formel 1 Zoom Download

erinnert ihr euch noch? Es ist nicht ganz ein Jahr her, dass Michael Masi, der damalige Rennleiter der Formel 1, beim Grand Prix von Saudi-Arabien mit seinem "Basar" um den Startplatz von Max Verstappen erstmals so richtig in die Kritik geraten ist.

Danach, stimmt, passierte auch noch Abu Dhabi. "Toto? It's called a motor race, okay? We went car racing." Ein Zitat für die Ewigkeit und eine Kontroverse, die die Formel 1 bis heute nicht loslässt.

Nach dem, was in den vergangenen Wochen passiert ist, muss man wohl sagen: Es war nicht alles schlecht, was Masi gemacht hat.

Seit dem Regenchaos in Suzuka, mit der Aufregung um ein Bergefahrzeug auf der Strecke und das, wörtlich, "reckless Driving" von Pierre Gasly, ist hinter den Kulissen der Königsklasse des Motorsports so einiges passiert, was Masis Nachfolger nicht wahnsinnig gut aussehen lässt.

Aber der Reihe nach.

Wittichs Rolle im Haas-Alpine-Protest

Stein des Anstoßes war der Protest des Haas-Teams gegen Fernando Alonso beim Grand Prix der USA vor einer Woche. Dem Protest wurde stattgegeben, Alonso verlor (zumindest vorübergehend) seinen siebten Platz. Das wurde bereits aufgearbeitet und muss hier nicht wiedergekaut werden.

Interessant war Punkt 13 der Urteilsbegründung der zuständigen Rennkommissare. Man sei "zutiefst besorgt" über die Tatsache, dass Alonso "nicht die schwarz-orange Flagge gezeigt wurde, beziehungsweise nicht zumindest ein Funkspruch stattgefunden hat, um die Situation zu klären, trotz zweimaliger Kontaktaufnahme des Haas-Teams mit der Rennleitung".

Das war eine Frontalattacke gegen Rennleiter Niels Wittich aus den eigenen Reihen. Die Kommissare warfen ihm erstens vor, dass er auf Alonsos wackeligen Rückspiegel mit der sogenannten "Eidotter-Flagge" reagieren hätte müssen, und sie warfen ihm auch vor, dass er darauf sogar vom Haas-Team hingewiesen worden sei, während des Rennens, darauf aber nicht reagiert habe.

Sieht, so ehrlich muss man sein, von außen betrachtet nicht wahnsinnig gut aus für Wittich (und/oder sein Team).

Fortsetzung des Protests in Mexiko

Die leidige Causa wurde am vergangenen Wochenende in Mexiko weiterverhandelt. Alpine hatte, vereinfacht dargestellt, gegen den Protest des Haas-Teams selbst Protest eingelegt, weil Haas mit dem Protest um 24 Minuten zu spät dran war.

Im Zuge der Anhörungen stellte sich heraus, dass Haas in Austin "von der Rennleitung" (wichtig: nicht zwingend Wittich persönlich) auf Nachfrage informiert wurde, man habe eine Stunde Zeit, einen Protest einzureichen.

Eine Rennleitung, die die eigenen Regeln nicht kennt und ein Team dazu anleitet, sich über den "International Sporting Code", das Internationale Sportgesetzbuch der FIA, hinwegzusetzen?

Sieht wieder nicht wahnsinnig gut aus.

Bizarr: Protest gegen Frist wegen Frist nicht zugelassen

Der Fall Haas vs. Alpine war voll gespickt mit bizarren Details. Zum Beispiel ist inzwischen bekannt, dass Alpines Protest gegen den Protest unter anderem deshalb abgewiesen wurde, weil auch Alpine die erforderliche Frist nicht eingehalten hat. Stattdessen musste Alonsos Team ein Verfahren namens "Right of Review" (ich erspare euch die Details) anstrengen, um den siebten Platz zurückzubekommen.

Dem letztinstanzlichen Urteil in Mexiko hängten die zuständigen Kommissare (Silvia Bellot, Enrique Bernoldi, Garry Connelly und Dennis Dean) auch noch einen Absatz mit "Observations" an, also nicht rechtsverbindlichen Beobachtungen. Man sei nach wie vor "besorgt" darüber, dass Alonso in Austin trotz des fehlenden Rückspiegels erlaubt wurde, auf der Strecke zu bleiben.

Noch ein Querschuss gegen Wittich und sein Team aus den eigenen Reihen.

Michael Masi muss sich, zu Hause in Australien, mit tiefer Genugtuung ins Fäustchen lachen, wenn man bedenkt, wie seine Nachfolger gerade öffentlich hingerichtet werden. Von den Fans, von den Medien, aber sogar von den FIA-Kommissaren.

Wittich: Gerhard Berger hatte Bedenken

Wittich stammt aus der Frankfurter Gegend, war jahrelang Rennleiter beim ADAC-GT-Masters und zuletzt, 2021, in der DTM. Als bekannt wurde, dass er in die Formel 1 aufsteigen soll, um Masi nachzufolgen, äußerte DTM-Chef Gerhard Berger Bedenken. Die Formel 1 sei nicht die DTM, und er habe Zweifel daran, dass Wittich der Aufgabe gewachsen sein wird.

Bergers Clinch mit Wittich geht, so munkelt man, zurück auf einen Eklat bei einem Formel-3-Rennen in Monza 2015. Berger war damals noch nicht DTM-Chef, sondern half der FIA als Vorsitzender der Formelsportkommission, und Wittichs Entscheidungen, kritisierte er, würden "eine gesunde Formel 3 zerstören".


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Auch in der DTM galt Wittich nicht als unumstritten. Und wie jetzt in der Formel 1 über ihn gesprochen und geschrieben wird, bekommt man ja auch außerhalb des Paddocks mit.

Warum Wittich den schwierigsten Job der Formel 1 hat

Dabei möchte ich ihn instinktiv eigentlich in Schutz nehmen. Der 2019 verstorbene Charlie Whiting war ein Urgestein seines Sports. Er kannte jedes Regelwerk in- und auswendig, hatte hunderte Male mit dem Sportgesetzbuch gearbeitet, teilweise selbst an den Regeln mitgeschrieben.

Whiting hatte über die Jahre hunderte sogenannte Technische Richtlinien verfasst, von denen viele noch heute gültig sind, obwohl kein Bestandteil des Technischen und Sportlichen Reglements. Tausende Seiten von Dokumenten, die Whiting in jahrzehntelanger Tätigkeit verinnerlicht hatte und so gut kannte wie kein Zweiter.

Als er am 14. März 2019, einen Tag vor dem ersten Freien Training der neuen Formel-1-Saison, in seinem Hotelzimmer in Melbourne tot aufgefunden wurde, stürzte eine Welt zusammen. Niemand war auch nur annähernd dazu in der Lage, seinen Job, den er nur wegen jahrzehntelanger Erfahrung so gut erledigen konnte, zu übernehmen.

Immerhin hatte FIA-Präsident Jean Todt schon kommen sehen, dass Whiting einmal eine Riesenlücke hinterlassen würde, und veranlasst, dass er eine rechte Hand zur Seite gestellt bekommt, die von ihm lernen und eines Tages übernehmen soll.

Die rechte Hand war Michael Masi.

Masi: Erinnerungen an ein Interview im Jahr 2019

Masi wurde nach Whitings Tod ins kalte Wasser geschmissen. In Abu Dhabi 2019, am Ende seiner ersten Saison als Formel-1-Rennleiter, habe ich ihn in seinem Büro zu einem ausführlichen Gespräch getroffen. Masi war ausgesprochen nett, aber sehr förmlich - genau so, wie man sich einen Rennleiter vorstellt.

Ein Satz aus dem Interview ist bei mir hängen geblieben: "Ich bin davon überzeugt, dass Charlies Tage mindestens 48 Stunden hatten!"

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Unvergessen: Charlie Whiting war jahrzehntelang Rennleiter der Formel 1 Zoom Download

Die Fülle an Aufgaben, die Whitings Nachfolger übernehmen mussten, war von einer Einzelperson ohne jahrelange Vorbereitung auf den Job praktisch nicht zu stemmen. Masi hat das, zumindest soweit ich das aus meiner Beobachterposition beurteilen kann, gut gemacht.

Wolff über Masi: "Besserwisser"

Gestolpert ist er, sagt man mir, viel mehr darüber, dass er menschlich nicht die gleiche Kompetenz an den Tag legte wie Whiting. Während Whiting es mit seinem spitzbübischen Charme immer irgendwie schaffte, mit allen Beteiligten einen gerechten und korrekten Deal auszuhandeln, wird Masi nachgesagt, er habe zu oft harter Hund gespielt. Das kam nicht gut an.

Masis Ausgangslage war auch eine viel schwierigere als die von Whiting. Whiting war ein Urgestein der Formel 1. Praktisch alle Fahrer, Teammanager und Teamchefs kamen nach ihm in den Sport. Daraus ergab sich ein natürliches Autoritätsgefälle.

Bei Masi war das anders. Er war der Neue, die Fahrer und Teams die Platzhirschen. Und ich vermute, ohne es zu wissen, dass nicht nur einmal der Satz fiel: "Charlie hat das aber so und so gemacht." Was ihn unendlich genervt haben muss.

Masi war der Lehrbub, die Toto Wolffs und Christian Horners dieser Welt spielten sich als seine Chefs auf.

Wittich hat, streng genommen, nicht Masis, sondern Whitings Job übernommen. Es ist wahrscheinlich der schwierigste Job in der Formel 1. Und den gut zu machen, ist nicht gut genug.

Wie man gerade sieht.

Zwei Hinweise in eigener Sache

Übrigens wünsche ich mir, dass möglichst viele von euch den Inhalt dieser Kolumne im Forum auf Motorsport-Total.com diskutieren. Ihr könnt mir dort zustimmen, ihr könnt meine Ansicht kritisieren, ihr könnt euch mit Gleichgesinnten austauschen. Denn Foren wie dieses sind es, die das Herz der Motorsport-Fangemeinde darstellen.

Und zweitens wäre es schön, wenn ihr euch auch noch Zeit nehmt, die Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" von Stefan Ehlen auf Motorsport.com Deutschland zu lesen. Fernando Alonso war nach seinem Motorschaden in Mexiko richtig, richtig mies drauf. Die Kolumne versucht zu erläutern, warum er trotzdem wie in Baby geschlafen hat ...

Euer Christian Nimmervoll


Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.

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