• 19. Juli 2021 · 02:37 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Max Verstappen

Exklusiv: Warum jenes Diagramm, das Toto Wolff an Michael Masi gemailt hat, die Schuldfrage in der Kollision in Silverstone in einem anderen Licht erscheinen lässt

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Max Verstappen

Max Verstappen unmittelbar nach der Kollision mit Lewis Hamilton in Copse-Corner Zoom Download

am Ende konnte er wieder lächeln. Um genau 22:58 Uhr deutscher Zeit postete Max Verstappen aus dem Krankenhaus in Coventry, wo man ihn mit dem Hubschrauber hingebracht hatte, ein Foto. Gemeinsam mit Papa Jos grinste er ins Smartphone, und dazu schrieb er die für seine Fans erleichternden Zeilen: "Nachdem alle Untersuchungen gut ausgegangen sind, wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen."

Trotzdem vermute ich, dass er nicht wahnsinnig gut geschlafen hat. Und wahrscheinlich waren es nicht einmal die blauen Flecken und Prellungen, die er sich beim 51g-Crash in der berüchtigten Copse-Kurve zugezogen hat.

Sondern, erstens, der Gedanke an die WM. Es schien alles angerichtet für den vierten Sieg hintereinander. Kriegt ihn Lewis Hamilton nicht in der ersten Runde, das war ziemlich klar, dann wird Silverstone 2021 für Mercedes kaum zu gewinnen sein. Zu schnell war der Red Bull in den Kurven der Traditionsstrecke.

Aber auf den Geraden, da war Verstappen verwundbar. Im Qualifying am Freitag war Hamilton der Schnellste der Topspeedmessung, und Verstappen der Langsamste. Er müsste nur die erste Runde heil überstehen, Hamilton aus dem DRS-Fenster abschütteln und das Rennen dann routiniert nach Hause fahren. Das war der Masterplan.

Doch es kam anders.


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Die Weltmeisterschaft ist mit einem Knall plötzlich wieder spannend. Statt Silverstone mit 40 Punkten Vorsprung zu verlassen, sind es jetzt nur noch acht. Das tut mehr weh als die blauen Flecken. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Verstappen schon in Baku ein sicher geglaubter Sieg abhandengekommen ist.

Hamilton wurde von Red Bull am Sonntagabend verbal zerrissen. Helmut Marko forderte nicht nur eine härtere Strafe, sondern sogar eine Sperre für den siebenmaligen Weltmeister. Und Christian Horner legte nach, als die TV-Kameras abgeschaltet warten, dass Hamilton in Kauf genommen habe, die Sicherheit aufs Spiel zu setzen. In Copse die Nase reinhalten, bei Tempo 290 im achten Gang, das geht gar nicht, findet er.

Doch zur Wahrheit des gestrigen Rennsonntags gehört, dass sich Verstappen auch ein bisschen an die eigene Nase fassen muss. Denn kurz vor dem kritischen Einlenken in die Kurve war Hamilton, der aus Woodcote heraus einen perfekten Windschatten erwischte und dementsprechend Geschwindigkeitsüberschuss hatte, schon beinahe auf gleicher Höhe.

Mir ist inzwischen jenes Diagramm in die Hände gefallen, das Mercedes-Teamchef Toto Wolff während des Rennens an FIA-Rennleiter Michael Masi gemailt hat. Das gilt als Handlungsempfehlung für Fahrer und als Orientierung für die FIA-Rennkommissare, um eben solche Kollisionen einzuordnen.

Auf dem Diagramm ist klar zu sehen, dass ein Fahrer, der in einer Kurve innen versucht, einen Gegner zu überholen, gar nicht auf gleicher Höhe sein muss. Ein Beispielbild, auf dem das Vorderrad des angreifenden Autos nur etwa eine Radbreite vor dem Hinterrad des verteidigenden Autos fährt ("significant overlap"), ist dort wörtlich so illustriert: "Die Kurve gehört dir. Vorausgesetzt du schaffst es sauber durch die Kurve."

Damit ist klar: So eindeutig, wie Red Bull es uns verkaufen wollte, ist die Schuldfrage nicht. Und angesichts dieses Diagramms ist auch nachvollziehbar, warum Mercedes' leitender Renningenieur Andrew Shovlin sogar findet, dass die Zehn-Sekunden-Strafe zu hart war. Denn demnach wäre es Verstappen gewesen, der zurückziehen hätte müssen, und nicht Hamilton.

Nun kann man herzhaft darüber streiten, ob diese Regel (die mir, zugegeben, vorher auch nicht in der Form bekannt war) sinnvoll ist. Tatsache ist aber: Fahrer und Teams wussten darüber natürlich besser Bescheid als die TV-Zuschauer und ich, die wir im ersten Impuls mehrheitlich dazu geneigt waren, Hamilton für geisteskrank zu erklären und ihm selbstverständlich die Schuld zu geben.

Zu einer reflektierten Betrachtung der Kollision gehört freilich auch, dass Hamilton durchaus seinen Anteil an dem Crash hatte, und so bleibe ich bei meiner Einschätzung aus der Video-Rennanalyse von Sonntagabend, die da lautete: Hamilton hat zwar, anders als Verstappen, versucht, eine Berührung zu verhindern (zumindest im letzten Moment). Aber die Strafe war in meiner subjektiven Wahrnehmung dennoch gerechtfertigt.

Denn der direkte Vergleich der beiden Manöver Hamilton-Verstappen und Hamilton-Leclerc zeigt, dass Hamilton bei der Attacke gegen Verstappen um eine Fahrzeugbreite weiter außen fuhr als gegen Leclerc.

Leclerc also dafür zu loben, dass er Platz gelassen habe, und Verstappen zwischen den Zeilen zu unterstellen, er habe sich zu aggressiv verhalten, ist angesichts solcher Beweisbilder nicht korrekt. Es war Hamilton, dessen Linie nicht konstant war, nicht die des jeweiligen Gegners.

Wie dem auch sei: Verstappen kommt jetzt mit acht WM-Punkten Vorsprung nach Ungarn, und weil der Hungaroring für den RB16B ein gefundenes Fressen sein sollte, steht zu erwarten, dass er unter normalen Umständen als WM-Führender in die Sommerpause gehen wird. In der können sich die Gemüter dann wieder ein wenig beruhigen. Und Red Bull Optimismus tanken.

Denn so euphorisch Hamiltons Sieg in Silverstone auch gewesen sein mag: Der Sprint am Samstag hat gezeigt, wer - trotz (letztem) Mercedes-Update - immer noch das schnellste Auto im Feld hat.

Wenn Verstappen nicht noch ein Baku oder Silverstone passiert, sondern zur Abwechslung auch Hamilton mal von seinem Glück verlassen wird, dann hat der 23-Jährige allerbeste Chancen, 2021 Formel-1-Weltmeister zu werden.

Ihr Christian Nimmervoll


Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.

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