• 24. Oktober 2016 · 07:00 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Warum Max Verstappen nicht mit Senna und Schumacher verglichen werden sollte und Rennen wie in Austin daran erinnern, dass er erst 19 Jahre jung ist

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,

Max Verstappen, so glauben viele Experten, ist das "next big thing" in der Formel 1. Grand-Prix-Sieger ist er schon, Weltmeister wird er auch bald sein, sagt man. Das Timing ist gut: Red Bull befindet sich auf dem Vormarsch, und 2017 kommt ein neues Reglement, bei dem die Aerodynamik im Mittelpunkt steht. Alles andere als ein Siegerauto aus der Feder von Stardesigner Adrian Newey wäre eine Überraschung.

Und wenn der RB13 der große Wurf wird, den ich Newey durchaus zutraue, dann liegt es wohl auf der Hand, dass Verstappen damit Weltmeister wird. Als gäbe es nichts Leichteres.

Wirklich?

Ich bin mir da nicht so sicher.

Als Ayrton Senna und Michael Schumacher noch keine Mehrfach-Weltmeister waren, sondern auch "nur" das "next big thing", waren ihre Teamkollegen nur Statisten in einem Drehbuch, dessen letztes Kapitel schon geschrieben war: Weltmeister. Ich stimme meinem Lieblings-Interviewpartner Eddie Irvine zu, wenn er sagt: "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Senna und Schumacher von ihrem Teamkollegen so regelmäßig geschlagen worden wären."

Vergleich mit Senna und Schumacher hinkt

Senna nahm in seiner Debütsaison 1984 auf Toleman an 15 Qualifyings teil. Nur zweimal musste er sich seinem Teamkollegen geschlagen geben, und er holte 13 von 16 Punkten jenes Teams, aus dem später einmal Benetton, Renault, Lotus und dann noch einmal Renault wurde. Auch 1985, nach dem Aufstieg zu Lotus (nein, noch nicht das Enstone-, sondern noch das Chapman-Lotus), setzte er sich im Qualifying-Stallduell mit 13:3 durch, und sein Teamkollege Elio de Angelis war sicher kein Nasenbohrer.

Schumacher hätte 1991 vielleicht gleich seinen allerersten Grand Prix in Spa-Francorchamps gewonnen (Andrea de Cesaris im zweiten Jordan hätte beinahe), wenn ihm nicht schon nach ein paar hundert Metern die Kupplung verraucht wäre, und in seinen ersten vier Qualifyings nach dem Wechsel zu Benetton war er viermal schneller als Nelson Piquet im zweiten Auto. Und Piquet war zum damaligen Zeitpunkt nicht irgendwer in der Formel 1, sondern immerhin dreimaliger Weltmeister.

Verstappen misst sich mit Daniel Ricciardo. Kein Schlechter, gewiss, aber rein statistisch gesehen "nur" ein viermaliger Grand-Prix-Sieger. Dass der "Baby-Bulle" (mit einer ordentlichen Portion Glück) in Barcelona gleich sein erstes Rennen im Red Bull gewonnen hat, ließ einen Hype ausbrechen. 13 Rennen später sind die nackten Zahlen ernüchternd: 4:10 Qualifyings, 152:191 Punkte.

Vergleiche zwischen den Herren Schumacher und Senna und unserem "next big thing" sind also verfrüht.

Funksprüche mit großer Klappe

Auch weil einem Rennen wie das gestrige in Austin vor Augen führen, dass Verstappen eben noch 19 ist und kein abgebrühter Formel-1-Vollprofi mit 200+ Grands Prix auf dem Buckel. Ja, Funksprüche wie "Ich bin nicht hier, um Vierter zu werden!" (als er aufgefordert wurde, seine Reifen zu schonen) oder "So wird das gemacht!" (nach dem Extraklasse-Manöver gegen Kimi Räikkönen) sind eine wohltuende Abwechslung im glattgeschmirgelten PR-Einheitsbrei der modernen Formel 1. Aber eine große Klappe gewinnt noch keine WM-Titel.

Vielleicht hätte Verstappen mal besser dran denken sollen, seinen Boxenstopp beim Team anzumelden, bevor er zum Reifenwechsel kam. Selbst Helmut Marko, eigentlich ein Verstappen-Fan erster Stunde, beurteilt die Leistung beim Grand Prix der USA kritisch: "Sein Start war nicht gut, und dann hat er sich seine Reifen zu schnell kaputt gefahren. Dann hat er beschlossen, einen Boxenstopp einzulegen. Max hat ungefähr zehn oder 15 Sekunden vorher gefunkt: 'Ich komme jetzt an die Box.' Einfach von selber!"

Was dann auch bestraft wurde. Zuerst mit 9,2 Sekunden Standzeit und dem Rückfall hinter die beiden Ferraris, später mit Karma: Getriebeschaden, null Punkte.

Auf den Spuren von Räikkönen?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde Max Verstappen verdammt cool, und wir sollten froh sein, dass wir in der Formel 1 so einen frechen Jungspund haben, der die Altstars gehörig aufmischt. Vielleicht ist es sogar ein bisschen so wie mit Kimi Räikkönen, der 2001 bei Sauber noch gegen Nick Heidfeld unterlegen ist. Aber die, die nahe genug dran waren, konnten schon erkennen, dass in Räikkönen ein Weltmeister schlummert und in Heidfeld nicht.

Nur: Bei aller Euphorie sollten wir die Kirche auch ein bisschen im Dorf lassen. Verstappen ist kein neuer Schumacher, er ist auch kein neuer Senna. Er ist einfach nur ein Verstappen. Nicht der erste, aber der beste.

Übrigens: Dass nach der Kritik einiger Kollegen im Fahrerbriefing am Freitag eine "Verstappen-Regel" eingeführt wurde, die den Spurwechsel beim Bremsen im Zweikampf zwar nicht grundsätzlich verbietet, aber seitens der FIA doch schärfer beäugt, hätte man sich mal besser sparen sollen. Man kann über Verstappen durchaus Schlechtes sagen, aber dass wegen seines Zweikampfverhaltens gleich eine neue Regel erfunden wird, ist der Panik dann doch ein bisschen zu viel...

Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:

Maurizio Arrivabene: Selbsterklärend. Sebastian Vettel ist eigentlich derjenige, der Ferrari aus der Krise führen soll, aber Vettels Laune war auch schon mal besser. Den Hinweis auf "ein paar" Probleme mit dem Heckflügel quittierte er am Boxenfunk mit: "Ein paar? Ein paar ist gut! Macht nur weiter Witze!" Und wenn er dann auch noch vertieft mit Christian Horner und Adrian Newey spricht, gleichzeitig keine Eile empfindet, was seinen Vertrag nach 2017 angeht, dann schrillen in der italienischen Presse die Alarmglocken. Ob Vettel bei dem Meeting wirklich nur die Sonderausstattung für sein neues (drei Millionen Dollar teures) Newey-Hypercar AM-RB 001 bestellt hat?

Monisha Kaltenborn: Die Sauber-Teamchefin meint logisch erklären zu können, warum es trotz finanzieller Sanierung besser ist, 2017 mit einem 2016er-Ferrari-Motor zu fahren, während die 2017er-Motoren erstmals wieder ohne Token-Limits weiterentwickelt werden dürfen. Mir erschließt sich diese Logik nicht, aber vielleicht kenne ich auch nicht alle technischen Details. Auf jeden Fall schlecht schlafen würde ich an Frau Kaltenborns Stelle beim Blick auf die WM-Tabelle: Es bleiben nur noch drei Rennen, um den rettenden Punkt zu holen. Die Schmach, erstmals in der Teamgeschichte WM-Letzter zu werden, würde Sauber wohl gerade noch verkraften. Die entgangenen FOM-Millionen eher nicht.

Silvia Bellot, Mark Blundell, Dennis Dean & Paul Gutjahr: Über die "Verstappen-Regel" und ihre Auslegung (siehe Kwjat vs. Perez) kann man gerade noch diskutieren. Aber warum für die Karambolage in der ersten Kurve Nico Hülkenberg und Valtteri Bottas Gegenstand einer Untersuchung sein müssen, sich aber niemand für den Auslöser Sebastian Vettel interessiert, das müssen mir die Damen und Herren Rennkommissare mal erklären. Immerhin: Der gesunde Menschenverstand hat sich wenigstens insofern durchgesetzt, als Hülkenberg und Bottas freigesprochen wurden.

Christian Nimmervoll: Mich selbst zu nominieren, ist insofern paradox, als ich letzte Nacht gar nicht geschlafen habe. Das lag tatsächlich an der redaktionellen Aufarbeitung des Grand Prix der USA; im metaphorischen Sinn hat mir den Schlaf aber eine völlige Fehleinschätzung am Donnerstag geraubt. Als Bottas von Williams in der Vergangenheitsform sprach und Jolyon Palmer gleichzeitig meinte, bei der Vergabe des zweiten Renault-Cockpits sei jetzt einiges klarer geworden, ließ ich mich von meinem Instinkt täuschen. Inzwischen hat Bottas für 2017 bei Williams unterschrieben - die offizielle Bekanntgabe ist bereits vorbereitet. Und ich stehe ziemlich dumm da. Zurecht.

Ihr
Christian Nimmervoll

PS: Folgen Sie mir oder meinen Kollegen auf Twitter unter @MST_ChristianN!

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