"Weiß nicht, wo ich heute wäre": Wie ein Rennen Bearmans Leben veränderte
Oliver Bearman spricht offen über die finanziellen Opfer seiner Familie und den entscheidenden Moment, der seine Karriere in neue Bahnen lenkte
(Motorsport-Total.com) - Oliver Bearmans Weg in die Formel 1 basierte auf reiner Geschwindigkeit, früher Reife - und dem dringenden Bedürfnis, jede Chance zu nutzen. Im Gespräch mit Motorsport.com blickt der 20-Jährige darauf zurück, wie sein überraschendes Ferrari-Debüt alles verändert hat - und warum es eine der schwierigsten Aufgaben als Haas-Pilot 2025 ist, die Erwartungen im Zaum zu halten.

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Oliver Bearman absolviert seine erste Saison als Stammfahrer in der Formel 1 Zoom Download
Es gibt eine Geschichte, die viel über Oliver Bearman aussagt. Im April 2023, frisch nach seinem Durchbruch-Wochenende in der Formel 2 in Baku - wo er sowohl das Sprintrennen als auch das Hauptrennen gewann - wurde Bearman 18 Jahre alt. Einer seiner Sponsoren lud ihn zu einem Treffen ein.
"Sie machten ein bisschen Aufhebens", erinnert sich Bearman gegenüber der italienischen Version von Motorsport.com. "Dann zeigten sie auf einen Ferrari Roma, der in der Nähe geparkt war. Ich schaute ihn mir an, und als ich mich wieder umdrehte, hielten sie mir die Schlüssel hin: 'Alles Gute zum Geburtstag.'"
Bearman, fassungslos, rief sofort seinen Vater David an, um die Neuigkeit zu teilen. "Du wirst es nicht glauben", sagte er. Die Antwort kam prompt: "Das ist großartig - aber du weißt, dass wir die Versicherung zahlen müssen - und die wird nicht billig."
Papa David opfert eigene "Karriere"
Im Hause Bearman waren die realen Probleme nie weit entfernt. Ollie bekam zu Weihnachten 2011 sein erstes gebrauchtes Kart - der Beginn seiner Rennsportgeschichte, aber immer mit beiden Füßen auf dem Boden. Sie fuhren in Großbritannien, weil Rennen in Italien zu teuer gewesen wären. Die Schule zu schwänzen war keine Option. Irgendwann stand sein Vater David vor einer Entscheidung.
Als Clubrennfahrer fuhr David einen Porsche Boxster mit der Startnummer 87 - eine Anspielung auf die Geburtstage seiner Söhne: Ollie am 8. Mai, Thomas am 7. August. "Deshalb sieht man heute noch die 87 auf dem Haas", erklärt er. Aber als klar wurde, dass Ollie echtes Talent hatte, fiel die Entscheidung leicht: "Ich habe aufgehört zu fahren. Jeder Cent ging ins Kartfahren."
"Mein Vater hat früher Rennen gefahren, und mein Großvater auch", sagt Ollie. "Es war nur Club-Racing, zum Spaß. Sie hatten weder das Budget - noch wahrscheinlich das Talent", lacht er, "um viel weiterzukommen. Ich erinnere mich, wie ich meinen Vater in seinem Porsche fahren sah, da war ich fünf oder sechs - ich liebte es. Der Sound, die Gerüche, das ganze Erlebnis. Da habe ich mich in den Rennsport verliebt."
Die Familie brachte Opfer, um den Traum am Leben zu halten - in dem Wissen, dass es kaum eine zweite Chance geben würde.
"Ich erinnere mich, als ich vom Kart in die Formel 4 wechselte", erzählt Bearman. "Mein Vater war deutlich: Wir konnten es uns nicht leisten, zwei, drei, vier Saisons zu fahren. Es war einfach zu teuer. Wir mussten sogar beim Testen sparen."
Dschidda als großer Durchbruch
Dieses Bedürfnis, von Anfang an zu liefern - ohne Vorbereitung - wurde zur Stärke. Bearman war in der F4 schnell, in der F3 - und wieder in der F2. Doch selbst mit diesem Ruf hätte niemand vorhergesagt, wie wenig Vorlauf er vor seinem Formel-1-Debüt in Saudi-Arabien im vergangenen Jahr bekommen würde.
"Es waren buchstäblich nur ein paar Stunden Vorwarnung", sagt Bearman grinsend. "Aber es war die größte Chance meines Lebens. In der F2 lief es zu dem Zeitpunkt nicht gut - und plötzlich hatte ich die Gelegenheit, zu zeigen, was ich in einem Ferrari-F1-Auto leisten kann."
Tops und Flops: Ersatzfahrer in der Formel 1
Top: Michael Schumacher. 1991 in Spa springt er ein bei Jordan für Betrand Gachot, der im Gefängnis sitzt. Schumacher überzeugt mit Startplatz sieben, fällt aus im Rennen - und wird sofort von Benetton verpflichtet, wo er 1994 erster deutscher Formel-1-Weltmeister wird. Fotostrecke
"Ich hatte Glück, dass ich dieses Rennen bekommen habe. Ich hatte zuvor nur zwei Tage in einem F1-Auto, also war ich vorsichtig, ich wollte es nicht vermasseln. Das hat mich etwas gebremst, aber ich denke, ich habe trotzdem etwa 50 Prozent von dem gezeigt, was ich kann. Und das hat gereicht, um mich hierher zu bringen. Ehrlich gesagt - ich weiß nicht, wo ich jetzt wäre, wenn Dschidda nicht passiert wäre."
Vier Monate später kam die erhoffte Bestätigung.
"Das war nach dem Österreich-Wochenende, kurz vor Silverstone - ich glaube, am Montag oder Dienstag. Ich flog zurück nach England, als die Nachricht kam: Ich werde 2025 Stammfahrer bei Haas. Eine volle Saison. Das war ein ganz besonderer Moment."
Bearman war bereits als Stammfahrer für Haas für 2025 bestätigt, als er kurzfristig für das Team in Baku und Interlagos einsprang und dort solide Leistungen zeigte.
Kleinere Brötchen in dieser Saison
"Rückblickend war ich letztes Jahr ein bisschen verwöhnt", gibt er zu. "Ich bin den Ferrari gefahren, habe Punkte geholt. Dann dasselbe mit Haas in Baku. Sogar in Brasilien kam ich ins Q3 und kämpfte in den Top 10. Ich habe es irgendwie für selbstverständlich gehalten, dass ich bei jedem Einsatz Punkte hole."
"Aber dieses Jahr war ein Weckruf. Die Abstände sind so eng - wir sind nicht in der Position, jedes Wochenende um Punkte zu kämpfen. Ich musste meine Erwartungen neu justieren, um nicht frustriert zu werden."
"Es gab Rennen, in denen ich das Gefühl hatte, gut gefahren zu sein - Wochenenden, auf die ich stolz war - aber es ist schwer, zufrieden zu sein, wenn man sich auf P12 oder P15 wiederfindet."
Bearman sagt, er arbeite hart daran, auf dem Boden zu bleiben. "Ich versuche, mich von den Ergebnissen nicht runterziehen zu lassen - und ehrlich zu mir selbst zu sein. Wenn ich einen guten Job gemacht habe, nehme ich das als Motivation fürs nächste Rennen."
"Letztes Jahr kamen die Punkte ziemlich leicht, das hat die Erwartungen geprägt. Dieses Jahr tun wir uns schwerer als gedacht. Konsequent zu punkten ist hart, aber ich bin super motiviert. Die richtige Einstellung zu behalten und positiv zu bleiben, ist extrem wichtig."
Nervosität im Büro von Laurent Mekies
Dieser Drang, abzuliefern, war schon immer Teil von Bearmans DNA. Aber jetzt, unter dem Ferrari-Dach, kann er sich auf die Leistung auf der Strecke konzentrieren - und nicht mehr aufs bloße Überleben. Er erinnert sich noch gut an die Nervosität bei seinem ersten Kontakt mit der Scuderia.
"Nachdem ich den Titel in der italienischen F4 gewonnen hatte, lud mich Ferraris Fahrerakademie zu einem Test in Fiorano ein", erinnert er sich.
"Ich weiß noch, wie ich in Laurent Mekies' Büro ging - er war damals Sportdirektor des Teams. Ich war 15, saß jemandem gegenüber, den ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Ich wusste: Ich muss sie überzeugen, dass ich die Investition wert bin. Ich glaube, meine Hände haben gezittert."
Dann kam die erste Fahrt auf der Strecke: "Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich aus der Fiorano-Garage fuhr. Ich hatte Alonso, Schumacher, Vettel, Leclerc auf dieser Strecke gesehen - alle sind dort gefahren. Ich war nur in einem F4-Auto, aber es war trotzdem etwas Besonderes."
"Und zwei Jahre später hatte ich meinen ersten F1-Test. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Diesen roten Overall zu tragen ... man kann kaum beschreiben, wie sich das anfühlt. Es hat mich stolz gemacht - und unheimlich motiviert, ihn wieder zu tragen."
Das Ziel: Einen Formel-1-Ferrari fahren
Bearman lebte zwischen 2023 und 2024 in Modena, pendelte häufig nach Maranello für Simulatorarbeit.
"Modena ist wunderschön. Ich halte dort immer noch, wenn ich in der Gegend bin. Im Moment denke ich nicht an Ferrari. Ich glaube, ich habe das Zeug dazu, eines Tages für das Team zu fahren - aber ich muss es selbst beweisen."
"Ich bin mir sicher, dass Ferrari an mich glaubt - sie haben mich bis hierhin unterstützt und mir die Chance gegeben, die ich jetzt habe. Das bringt mich jeden Morgen aus dem Bett. Ich will in Rot fahren. Ich will in Rot gewinnen. Das ist meine größte Motivation."
Einen Ferrari besitzt er natürlich schon - den Roma.
"Stimmt - das ist das Wertvollste, was ich besitze. Mein erster Ferrari, und er kam auf so besondere Weise. Seitdem steht er in der Garage." Die Versicherung? "Die zahle ich jetzt selbst!"
Kommt jetzt der zweite Bearman?
Bearmans Vater David verfolgt das Geschehen nun aus der Ferne - und kann inzwischen auch den jüngeren Bruder Thomas unterstützen, der mittlerweile in der F4 fährt.
"Wenn Ollie in der F2 geblieben wäre, hätte ich nicht beide unterstützen können", sagt David. "Aber es hat alles geklappt."
In Silverstone fuhr Thomas in einer der Rahmenserien - mit Ollie und David, die gemeinsam auf der Treppe den Start beobachteten. Thomas' Weg mag etwas glatter verlaufen als der seines Bruders - aber die Fähigkeit, unter Druck zu liefern und sofort abzuliefern, hat Ollie zur Perfektion gebracht. Und das könnte eine der wertvollsten Eigenschaften im modernen Motorsport sein.