Geht es in der Formel 1 jetzt nur noch darum, wer den besten Windkanal hat?
Die Formel 1 ist spannend wie lange nicht mehr und die Top-Teams kämpfen um jede Zehntel - Entscheidet am Ende der beste Windkanal darüber, wer Weltmeister wird?
(Motorsport-Total.com) - Während der Kampf an der Spitze der Formel 1 immer intensiver wird, liegt der Schlüssel zum Erfolg nun darin, die besten Upgrades zu bringen, ohne dadurch in Schwierigkeiten zu geraten. Die Fehltritte, die sich Ferrari, Red Bull, Aston Martin und Mercedes in diesem Jahr bereits geleistet haben, stehen im Gegensatz zum McLaren-Team, das bisher alle Entwicklungen am MCL38 perfekt umgesetzt hat.
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Wird der WM-Titel dadurch entschieden, wer den besten Windkanal hat? Zoom Download
Während die Konkurrenz darüber rätselt, warum McLaren die Updates so gut hinbekommen hat, während viele andere Teams in die falsche Richtung gegangen sind, macht eine interessante Theorie die Runde, die besagt, dass die Situation in der Saison 2024 ganz einfach ist: Es geht nur noch darum, wer den besten Windkanal hat.
Der Zusammenhang zwischen dem Erfolg von McLaren und dem neuesten Windkanal der aktuellen Generation wird von Insidern nicht als reiner Zufall abgetan. Während Red Bull versucht, den Ursachen für die Entwicklungsprobleme des RB20 auf den Grund zu gehen, ist man bei McLaren zunehmend davon überzeugt, dass das Problem im Bedford-Windkanal liegt - einer modernisierten Anlage, die ursprünglich während des Kalten Krieges gebaut wurde.
Es war bezeichnend, als Red-Bull-Teamchef Christian Horner nach dem Großen Preis von Italien über die Probleme des Teams mit dem aktuellen Auto sprach: "Vorderachse und Hinterachse passen nicht zusammen. Das kann man sehen. Unser Windkanal zeigt es nicht, aber die Rennstrecke zeigt es."
"Drei Uhren, die unterschiedliche Zeiten anzeigen"
Jedes Problem mit dem Windkanal kann für die Teams eine echte Herausforderung darstellen. Weil die Entwicklung von den Daten aus dem Windkanal abhängt, ist es fast unmöglich, mit Sicherheit zu wissen, ob neue Teile eine Verbesserung darstellen oder nicht, wenn die Informationen falsch sind.
Horner vergleicht die Situation mit drei Uhren, die unterschiedliche Zeiten anzeigen - und man muss herausfinden, welcher man vertrauen kann. "Es ist natürlich nicht ungewöhnlich, dass man, wenn etwas am Auto nicht funktioniert, von seinen Simulationswerkzeugen unterschiedliche Messwerte erhält, die nicht übereinstimmen", sagte er. "Dann hat man drei Datensätze: CFD, Windkanal und Strecke."
"Natürlich sind die Streckendaten am wichtigsten, aber sie zu entwickeln ist, als würde man die Zeit mit drei verschiedenen Uhren ablesen. Man muss sich auf das Werkzeug konzentrieren, das den wertvollsten Input liefert, und das sind natürlich die Streckendaten."
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Die aktuelle Situation bedeutet, dass es Red Bull gar nicht schnell genug gehen kann, bis der neue, hochmoderne Windkanal in Milton Keynes in Betrieb genommen wird.
Worauf es bei einem guten Windkanal ankommt
Für die Spitzenteams geht es aber nicht nur darum, einen Windkanal zu haben, der keine falschen Daten liefert. Entscheidend ist vielmehr, wie viel besser die Daten aus dem eigenen Windkanal sind als die der Konkurrenz.
Denn bei der aktuellen Generation der Ground-Effect-Autos, die so sensibel auf die Fahrhöhe und die Unterboden-Aerodynamik reagieren, ist die Trefferquote bei der Fahrzeugentwicklung umso besser, je genauer die Messwerte sind und je näher die Korrelation an der Realität liegt.
Die Qualität der Daten kann durch einen fortschrittlicheren Windkanal verbessert werden, und die Teams verfolgen heute eine Reihe von Schlüsselfunktionen. Einige davon wurden von Ferrari implementiert, nachdem der Windkanal in diesem Sommer für einige Wochen wegen Renovierungsarbeiten geschlossen war.
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Red Bull: Die Nase setzt beim RB20 schon auf dem Hauptprofil an und nicht mehr auf dem zweiten Element wie 2023 (kleines Bild unten). Außerdem ist der Verstell-Mechanismus der oberen Flaps nach innen gerückt (kleines Bild oben). Fotostrecke
Als Teil der Lehren, die Ferrari aus den Bouncing-Problemen bei hohen Geschwindigkeiten gezogen hat, von denen die Italiener beim Spanien-GP überrascht wurden, hat das Team beschlossen, einige Verbesserungen an seinem Windkanal vorzunehmen. Ursprünglich ging es vor allem um eine bessere Simulation des Gierwinkels, um den Luftstrom über dem Auto beim Durchfahren einer Kurve zu simulieren.
Wenn die Teams den Abtrieb der Autos untersuchen, geht es nicht nur um die Geradeausfahrt, sondern auch um das Drehen, Neigen und Gieren gegen den Luftstrom beim Durchfahren einer Kurve. Der Windkanal muss dies so gut wie möglich simulieren können.
Warum der Boden des Windkanals so wichtig ist
Nachdem Ferrari beschlossen hatte, seinen Windkanal zu schließen, um ihn zu modernisieren, entschied man sich, einen Schritt weiter zu gehen als ursprünglich geplant: Man überarbeitete den Boden, wie es auch andere Teams bereits taten. Wo früher eine glänzende, glatte Metalloberfläche Standard war, um eine einheitliche aerodynamische Plattform zu bieten, ist mittlerweile etwas anderes gefragt.
Weil die Luftströmung unter dem Unterboden absolut entscheidend für die Leistung der Ground-Effect-Autos ist und diese so sensibel auf die Streckenoberfläche reagieren, haben die Teams erkannt, dass ihre Erkenntnisse aus dem Windkanal besser sind, wenn der Untergrund die Realität simuliert.
Formel-1-Autos fahren nun einmal nicht auf glänzenden Metalloberflächen. Stattdessen werden heute bevorzugt gummiartige Materialien für den Boden verwendet. Diese haben eine raue Oberfläche und simulieren so besser den unterbrochenen Luftstrom, der auf echtem Asphalt entsteht.
Wie ein Teamverantwortlicher erklärte, trägt jede Unebenheit und jede Lücke im Asphalt dazu bei, dass unter dem Auto ein kleiner Wirbel entsteht, wenn es über die Strecke fährt - und die Bewältigung dieser winzigen Störungen des Luftstroms auf dem Boden ist entscheidend für die Leistung in der realen Welt.
Es wird vermutet, dass die Teams bei der Verwendung dieser raueren Fahrbahnbeläge so weit fortgeschritten sind, dass sie über verschiedene Typen verfügen, die die unterschiedlichen Fahrbahnbeläge simulieren, die im Rennkalender zu finden sind.
Die Luftströmung unter dem Auto ist auf einer rauen Strecke wie Bahrain ganz anders als auf einer glatten wie Montreal. Verrückt: Bei unseren Recherchen hat ein Ingenieur angedeutet, dass einige Teams möglicherweise sogar schon 3D-Drucke von Streckenoberflächen anfertigen, um einzelne Strecken exakt nachzubilden.
Bessere Sensoren als weiterer Faktor
Es gibt noch andere Bereiche, in denen die neuesten Windkanäle besser sind, und zwar bei der Datenerfassung. Der technische Direktor von Aston Martin, Luca Furbatto, sprach kürzlich von einem möglichen Vorteil für McLaren, der sich aus fortschrittlicheren Sensoren ergibt, die ein genaueres und besseres Feedback über die Vorgänge im Windkanal liefern.
"Wenn ich mich nicht irre, wurde der letzte Windkanal für die Formel 1 vor 20 Jahren entwickelt, es gibt also eine Menge technologischer Veränderungen", so Furbatto. "Stellen Sie sich vor, dass es heute Werkzeuge zur Visualisierung der Strömung gibt, die es vor 20 Jahren noch nicht gab."
"Man kann einen Windkanal von vor 20 Jahren nehmen und ihn mit neuer Technologie aufrüsten, aber es ist nie dasselbe, als wenn man mit einem ganz neuen Windkanal anfängt und sich fragt: Wie würde man es [von Grund auf] machen und was ist das Beste, was es gibt?"
Furbatto fügt hinzu: "Heute ist es möglich, die Strömungen in verschiedenen Bereichen des Fahrzeugs zu scannen. Das ist etwas Moderneres als die einfachen Waagen, die vor einigen Jahren verwendet wurden. Durch den Einsatz von Sensoren können wir die Qualität der Strömungen an vielen Stellen am Auto überprüfen."
Es ist deshalb kein Wunder, dass Aston Martin selbst von der Aussicht auf einen eigenen neuen Windkanal begeistert ist, der rechtzeitig für die Entwicklung des Autos 2026 in Betrieb genommen werden soll.
Windkanal "nur ein Werkzeug" für das Team
Die Vorteile, die die Teams in den neuesten und besten Windkanälen sehen, liegen auf der Hand. Deshalb war Ferrari auch bereit, seinen Windkanal mitten in der Saison zu schließen, um ihn rechtzeitig vor dem Winter zu erneuern. Kaum jemand, der nicht mit McLaren zu tun hat, weiß allerdings genau, welche Technologie im neuen Tunnel in Woking steckt.
Teamchef Andrea Stella macht keinen Hehl daraus, dass der neue Windkanal in Woking eine Hilfe für das ist, was derzeit auf der Rennstrecke passiert. Er deutet jedoch an, dass er nicht die ganze Antwort ist - denn er glaubt, dass ein Schlüsselelement, das nicht ignoriert werden kann, die menschliche Komponente bei der Nutzung der Daten ist, die aus dem Windkanal kommen.
"Ich denke, es ist hilfreich, dass wir einen neuen Windkanal und die neueste Technologie haben, da wir es mit komplexer Aerodynamik zu tun haben", sagt Stella. "Ich denke, dass die Entwicklung dieser Autos einige Herausforderungen für die Physik mit sich gebracht hat, und ich glaube, dass andere Teams, einschließlich McLaren, damit zu kämpfen haben, Entwicklungen einfach zu generieren."
"Ich glaube jedoch, dass wir ein konkurrenzfähiges Auto auf der Strecke nicht nur im Windkanal, sondern vor allem durch das gesamte Aerodynamik-Team erreichen können. Es gibt kein Werkzeug, das die Arbeit alleine macht."
"Ein Werkzeug ist ein Werkzeug, weil es von Menschen benutzt wird", stellt der McLaren-Teamchef klar. "Für mich geht das Lob deshalb an das Aerodynamik-Team, das seit Beginn der Arbeit im vergangenen Jahr eine so hohe Erfolgsquote bei der Entwicklung erzielt hat."