Die Brawn-Story (Teil 1): Die dramatische Teamrettung
Der neue Formel-1-Macher Ross Brawn sorgte 2009 für eines der größten Wunder der Sporthistorie: Wie er das Honda-Team rettete und dabei sogar einen Betrüger stellte
(Motorsport-Total.com) - Dieser Mann hat eine unglaubliche Karriere: Vom Mechaniker arbeitete sich Ross Brawn zu einem der Top-Designer der Szene nach oben und revolutionierte 1991 mit seinem Weltmeister-Jaguar die Gruppe C, später sorgte er mit seinen Ferrari-Boliden und als Strategiegenie für Michael Schumachers Rekordjagd. Nun wird Brawn vom neuen Formel-1-Besitzer Liberty Media eingesetzt, um den Sport auf den richtigen Weg zu bringen. Eine Aufgabe, die bis vor kurzem Zampano Bernie Ecclestone innehatte und niemandem zugetraut wurde. Doch warum glauben die neuen Eigentümer, dass der 62-Jährige Wunder wirken kann?
Womöglich hat es auch ein Stück weit mit dem Jahr 2009 zu tun. Denn die Art und Weise, wie er damals das schwache Honda-Team vor dem Zusperren rettete und damit in Eigenregie Weltmeister wurde, ging als eine der unglaublichsten Geschichten in die Formel-1-Historie ein. "Trotz all der schönen Momente mit Schumacher war das das Highlight meiner Karriere", steht für Brawn außer Zweifel. "Wenn mir das jemand 18 Monate vorher erzählt hätte, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt. Das konnte unter diesen Umständen unmöglich passieren."
18 Monate vor dem sensationellen Triumph unterschrieb der Mann aus Manchester nach einer Formel-1-Auszeit, die er im Garten und beim Fischen verbracht hatte, gerade ein Angebot von Honda als Teamchef für den darniederliegenden Rennstall. Im Jahr davor war man in der Konstrukteurs-WM mit nur sechs WM-Punkten Achter geworden. Ein Armutszeugnis für den Weltkonzern, der für seine Motorsportleidenschaft bekannt ist.
Warum Ross Brawn als Teamchef zu Honda ging
Doch warum tat sich der von Ferrari erfolgsverwöhnte Brawn diese Herausforderung an? "Ich hatte das Gefühl, dass sich das Team unter seinem Wert schlug, denn man hatte großartige Einrichtungen, ein sehr gutes Budget und tolles Personal", bringt er seine Motivation gegenüber dem Fachmagazin 'MotorSport' rasch auf den Punkt. "Vieles hat dort gestimmt, und ich dachte, dass es sich lohnen könnte, dort hinzugehen."
Weshalb aber war das Team, das davor als BAR immerhin einige Jahre lang vorne mitfuhr, nach der Honda-Übernahme 2006 in nur einem Jahr dermaßen in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht? "Die Schwierigkeit war damals der Zusammenhalt zwischen Japan und Großbritannien", fiel Brawn rasch auf. "Es gab diese Sündenbock-Kultur, die wir unbedingt loswerden mussten."
Möglicherweise nicht ganz unverantwortlich dafür war der damalige Teamchef Nick Fry, der Brawn schließlich zu Honda lockte. Der Brite, der seit 2002 für das Team arbeitete und Prodrive-Chef David Richards nachgefolgt war, galt nicht gerade als starke Führungspersönlichkeit. Ihm war es nicht gelungen, aus den zwei Fabriken in Brackley und Japan eine Einheit zu formen.
Offener Krieg zwischen Japan und Großbritannien
"Es gab Zeiten, da herrschte so etwas wie ein offener Krieg zwischen Chassis- und Motorenabteilung" gibt Fry gegenüber 'MotorSport' interessante Einblicke. "Wir alle waren der Ansicht, dass der Motor schwach ist - und zwar weder leistungsstark noch gut fahrbar." Die stolzen Japaner sahen dies allerdings anders und hielten ihr V8-Triebwerk für äußerst konkurrenzfähig.
Diesbezüglich war die Ankunft Brawns ein Segen, denn er brachte Erfahrungswerte von Ferrari mit. "Als ich die Zahlen sah, wusste ich, dass der Motor nicht konkurrenzfähig war", erzählt er. "Es gab diesbezüglich viele Meinungen, aber ich hab das dann geklärt. Wir konnten uns also auf die wichtigen Dinge konzentrieren."
Doch auch in der Chassis-Fabrik lief nicht alles optimal. Während andere Teams im Zeitalter der Testfahrten riesige Datenbanken erstellten und so noch heute von den Erfahrungswerten des vergangenen Jahrzehnts profitieren, verabsäumte man das in Brackley. Ohne repräsentative Daten tappte man oft im Dunkeln, wie Fry zugibt: "Als wir gut waren, wussten wir nicht warum. Und als wir schlecht waren, auch nicht."
Brawn stellt die Weichen für den Erfolg
Er gibt zwei Beispiele: "2004 hat das Auto auf Anhieb gut funktioniert, die Fahrer mochten es und wir schlugen uns gut, waren besser als all die anderen Ferrari-Gegner. 2006 gewannen wir sogar ein Rennen, nachdem wir den Radstand verändert hatten. In beiden Fällen hatten wir aber keine Anhaltspunkte warum."
Und so sah Brawn das Jahr 2008, sein erstes als Honda-Teamchef, als Aufbausaison. Er hatte längst das Jahr 2009 ins Visier genommen, denn die umfangreichen Reglementänderungen sollten dem Team die Chance geben, ohne Altlasten zu starten. "2009 war eine große Gelegenheit für uns", bestätigt er. "Als es 2008 losging, war es meine Priorität, alle Ressourcen auf 2009 zu konzentrieren, denn ich hatte das Gefühl, dass wir da einen Schritt machen können." Mit dem Honda-Vorstand, der in Brawn den großen Heilsbringer sah, hatte er sich auf einen Dreijahresplan geeinigt: 2009 sollten gute Ergebnisse erreicht werden, 2010 Siege.
Im Hintergrund bemühte sich Brawn 2008 trotz der erneut schwachen Ergebnisse, aus dem Team eine Einheit zu formen: "Das war unser Mantra - von nun an nicht einen guten Motor und ein gutes Chassis zu entwickeln, sondern ein gutes Auto." Geld spielte dabei keine Rolle - neben der zwei Windkanäle in Großbritannien arbeitete man auch in einem dritten Windkanal in Japan für den Großangriff im Jahr 2009.
28. November 2008: Als die Bombe platzte
Doch dann kam der 28. November 2008 - und plötzlich war nichts mehr so, wie es vorher war. Brawn und Fry, der nach der Ankunft des ehemaligen Ferrari-Mannes die Rolle des Geschäftsführers übernahm, wurden zu einem Honda-Meeting auf den Flughafen London-Heathrow bestellt. Dort lud Hondas Motorsportchef Hiroshi Oshima in das Hotel Renaissance ein.
"Wir hatten uns bereits vorher überlegt, wo wir Geld einsparen konnten, und Pläne vorbereitet", erinnert sich Fry, der im Angesicht der globalen Wirtschaftskrise ahnte, dass man den Gürtel in Zukunft etwas enger schnallen werde müssen. "Ein Plan sah vor, ein Viertel einzusparen, beim anderen handelte es sich um 40 Prozent. Es ging um viel Geld."
Doch dann ließ der inzwischen 64-jährige Japaner in einem kleinen Hotelzimmer die Bombe platzen. "Er hat uns ganz langsam die finanzielle Situation erklärt, dass sie Fabriken schließen müssen", erinnert sich Fry. "Und dass der Vorstand beschlossen habe, Dinge wie die Formel 1 nicht weiter betreiben zu können." Die Ausführungen nahmen Oshima offensichtlich selbst mit. "Er wirkte sehr erschüttert und hatte Tränen in den Augen", schildert Fry. "Das ist typisch für Honda, da sie eine Leidenschaft für den Rennsport haben und sehr emotional sind."
Wie Brawn das sofortige Aus verhinderte
Doch nicht nur der Japaner war gebeutelt. "Für uns war das ein Schock, denn damit hatten wir nicht gerechnet", sagt Fry. Das Formel-1-Duo hatte die Neuigkeiten noch nicht im Ansatz verdaut, als es von Oshima in einen größeren Konferenzraum gebeten wurde, wo man plötzlich 20 Honda-Managern gegenübersaß.
"Sie waren der Ansicht, dass wir einfach zurückkehren und die Lichter abdrehen sollten", wundert sich Brawn noch heute. "Sie waren sehr skeptisch, auch was den Wert des Teams angeht. Die Situation war so düster." Doch Brawn versuchte in diesem Moment zu retten, was zu retten ist: "Wir baten um etwas Zeit, damit wir das Team verkaufen können." In einem Monat wäre es vielleicht möglich, einen Käufer zu finden.
Die Japaner waren vom Ansuchen Brawns zunächst "schockiert", wie er erzählt. Schließlich lenkten sie aber ein. "Wir haben sie überredet, denn wir konnten das Team ja nicht einfach so schließen", sagt Brawn. "Sie gaben uns also etwas Geld, zwei Millionen, damit wir im Winter weitermachen konnten. Wir mussten ja erst die Leute informieren, und es gab Fristen. Außerdem: Ohne Auto hätte es definitiv keine Zukunft für das Team gegeben."
Montezemolo bietet Ferrari-Motor an
Zu diesem Zeitpunkt tappte die Öffentlichkeit immer noch im Dunkeln, obwohl Gerüchte über enorme Einsparungen bei Honda in den Medien kursierten. Erst am 5. Dezember, also eine Woche, nachdem Brawn und Fry informiert worden waren, bestätigte der Konzern offiziell das Formel-1-Aus. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten die beiden Manager bereits auf Hochtouren an der Rettung des Rennstalls.
Bei einem Treffen der damaligen Teamvereinigung FOTA am Tag vor der offiziellen Verkündung startete Brawn seine Bemühungen um einen neuen Motorenpartner. Und tatsächlich sah es zunächst nach einer möglichen Einigung mit Ferrari aus. "Wir wollten Luca di Montezemolo vor den anderen Teams über die Situation informieren, denn er war der FOTA-Vorsitzende", erinnert sich Fry, der mit Brawn das Meeting besuchte.
In der Hotelsuite zeigte sich der damalige Ferrari-Boss laut Fry solidarisch: "Luca meinte, dass er nicht wolle, dass es uns nicht mehr gibt. Das wäre ein sehr schlechtes Zeichen für die Formel 1. Er gab uns die Zusage, dass wir einen Ferrari-Motor haben könnten. Der würde uns acht Millionen Euro kosten." Kein Freundschaftspreis, aber immerhin ein Angebot.
"Käufer" kommt per Hubschrauber: Wie Brawn "The Don" entlarvte
Kurz darauf begann die Suche nach einem Teamkäufer: Über mangelndes Interesse konnte man sich nicht beschweren, wohl aber über mangelnde Seriosität. "In den kommenden Wochen tauchte jeder mögliche Scharlatan auf, den man sich nur vorstellen kann, und behauptete, er wolle das Team kaufen", erzählt Fry. "Das hat uns im Januar sehr viel Zeit gekostet."
Ein schwerreicher Grieche, der sich als Immobilien-Hai vorstellte, zog es sogar vor, bei der Anreise den direkten Luftweg zu nehmen, anstatt mit dem Pkw vorzufahren. "Der Hubschrauber war so riesig, dass unser Landeplatz zu klein war", erinnert sich der damalige Geschäftsführer des Teams. "Wir mussten also einen Parkplatz räumen, und alle Teammitglieder wollten dann herausfinden, wo dieser Hubschrauber herkommt. Er war irgendwo in San Marino angemeldet."
Außerdem bat er Brawn und Fry zum Abendessen im berühmten Londoner Luxushotel Ritz, um über eine mögliche Übernahme zu sprechen. Daraufhin beauftragten die beiden Briten ihren Finanzchef, die Hintergründe des ominösen Interessenten herauszufinden. Dieser recherchierte, dass es sich um einen Betrüger namens Achilleas Kallakis handelt. "Ich erinnere mich noch gut daran, als ich in Nicks Büro saß und ihn anrief, um ihm zu sagen, dass er laut unseren Recherchen ein Betrüger sei und seinen Namen geändert habe", erzählt Brawn.
Träumer und Scharlatane: Die verzweifelte Suche nach einem Käufer
Zunächst wollte Kallakis nichts davon wissen. "Er hat getobt und meinte, das sei unerhört", schildert Fry. "Wir mussten ihm dann sagen, was wir herausgefunden hatten." Der Fall liest sich wie ein Krimi: Kallakis, der sich auch als Pokerspieler einen Namen gemacht hatte und den Spitznamen "The Don" trug, fälschte Bürgschaften von fiktiven Investoren aus Hong Kong und brachte bekannte Banken wie die Royal Bank of Scotland, Barclay's oder die Allied Irish Bank dazu, ihm Kredite für Luxusimmobilien in Höhe von 750 Millionen Pfund zu geben.
Mit dem Geld kaufte er sich mehrere Bentleys, eine Jacht, einen Hubschrauber, eine umfangreiche Kunstsammlung - und beinahe auch ein Formel-1-Team. Doch die Manager aus Brackley erkannten, dass sie es mit einem Schwindler zu tun hatten.
"Dann fragte er noch, ob Honda über all das Bescheid wisse, was wir verneinten", erzählt Fry. "Es war schließlich Weihnachten." Der Mann aus Athen reagierte mit einem unmoralischen Angebot: "Er wollte wissen, was es koste, dass sie es nie erfahren. Wir stiegen nicht darauf ein, und wenig später hat es ihn erwischt." Im Januar 2013 wurde der inzwischen 47-Jährige zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Insgesamt gab es Gespräche mit 20 Interessenten, die aber alle erfolglos verliefen. "Da waren viele Träumer dabei, die keinen echten Zugang zu Geld hatten", offenbart Fry. Und darauf wollte sich weder das Managementduo, dem es freilich auch um die eigenen Arbeitsplätze ging, noch der Honda-Konzern einlassen, denn für die Japaner wäre es ein enormer Imageverlust gewesen, hätte man sich auf unseriöse Käufer eingelassen.
Lesen Sie am Mittwoch Teil 2 der großen Brawn-Story! Wie der damalige McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh Mercedes selbst in die Hände von Brawn trieb, wieso man Ferrari misstraute, wieso Geschäftsführer Nick Fry die Monaco-Sternstunde verschlief und wie das Wunder schließlich gelang.