Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat: Andrea Stella
Was der zweite WM-Titelgewinn in Folge mit Gil de Ferran zu tun hat und weshalb man Andrea Stella für seine Haltung bewundern kann
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
es sind oft die kleinsten, fast unscheinbaren Details, die einem am meisten über einen Menschen verraten. Wenn man Andrea Stella an einem Rennsonntag im Fahrerlager sieht, in Teamkleidung - einer papayafarbenen Jacke oder einem Polohemd - fällt ein kleines Ansteckabzeichen auf seiner linken Brustseite auf: ein Helm von Gil de Ferran.
"Gil war der erste Mensch, mit dem ich gesprochen habe, als mir der Vorschlag gemacht wurde, Teamchef zu werden", erzählte Stella uns im vergangenen Jahr in Abu Dhabi, nachdem McLaren seinen ersten Konstrukteurstitel seit 1998 gewonnen hatte. "Wegen seiner Freundschaft, seiner Weisheit, seiner unglaublichen menschlichen Qualitäten, seiner Intelligenz - und weil er immer ein großartiger Rennfahrer war."
"Er war der Erste, den ich um Rat gebeten habe, und für mich war sofort klar: Was auch immer ich aufbauen würde, ich würde es mit Gil aufbauen."
Doch es war ihnen nicht vergönnt, diesen Erfolg gemeinsam zu feiern. De Ferran, der bei McLaren zunächst als Sportdirektor gearbeitet hatte und später Berater wurde, starb Ende Dezember 2023 - ein Jahr nach Stellas Amtsantritt als Teamchef.
"Gil war immer an meiner Seite. Er war mein Ratgeber, mein persönlicher Berater. Wenn wir eine neue Teamkultur geschaffen, den Glauben gestärkt und die Standards auf das notwendige Niveau gehoben haben, dann war auch Gil Teil dieses Prozesses."
Als McLaren weit hinten stand
Es wäre einfach, Stella als den entscheidenden Architekten von McLarens Wiederauferstehung darzustellen. Als Andrea das Team übernahm, startete McLaren mit einem der langsamsten Autos im Feld und fand sich kurzzeitig am Ende der Konstrukteurswertung wieder.
Dann folgte eine unglaubliche Serie von Upgrades - die umstrukturierte Technikabteilung lieferte ein großes Entwicklungspaket nach dem anderen. Immer wenn McLaren etwas Neues an die Strecke brachte, war es kein kleiner Fortschritt, sondern ein riesiger Sprung nach vorn.
Der große Erfolgsfaktor bei McLaren
In einer Welt, die auf schnelle Erklärungen fixiert ist, wäre es verlockend zu sagen: Stella ist der Unterschied.
Doch genau dem würde er entschieden widersprechen - und zu Recht. Denn das wäre eine zu einfache Erklärung.
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Wenn man einen einzigen Faktor für McLarens jüngsten Erfolg benennen müsste, dann wäre es nicht Stella selbst, sondern die Teamkultur, die er mitgeformt hat. Auch wenn das vielleicht etwas pathetisch klingt: Es sind die Werte, die Haltung, der Geist dieses Teams. Selbst wenn die mittlerweile berühmten "Papaya Rules" inzwischen fast karikaturhaft wirken.
Kritik für die Haltung im Titelkampf
Natürlich wird McLaren weiter dafür kritisiert werden, wie das Team den Titelkampf führt. Der "Team-zuerst"-Ansatz mag großartig für McLaren sein, aber für die Zuschauer ist er weniger spannend als zwei Teamkollegen, die sich gegenseitig bekämpfen - Rad an Rad, mit verbalen Sticheleien, geteilten Lagern in der Box, versteckten Telemetriedaten oder kleinen Intrigen im Qualifying.
Und natürlich werden Medien - auch jene, die sich "sozial" nennen - fordern, McLaren solle Lando Norris und Oscar Piastri endlich "von der Leine lassen". Jede kleine Meinungsverschiedenheit, jede spitze Funknachricht, jeder etwas langsamere Boxenstopp wird sofort zum Drama aufgeblasen werden.
Man kann McLaren raten, das Kontrollieren aufzugeben - der Titelkampf werde es ohnehin sprengen. Doch Stella glaubt das nicht. Und man muss ihm zugestehen, dass er konsequent und unbeirrt an den Werten seines Teams festhält.
Stellas Gelassenheit ist bewundernswert
Bewundernswert ist, wie ruhig und gelassen er jeden Versuch externer Einflussnahme auf McLarens Entscheidungen abwehrt.
Das hat sogar etwas Ritualhaftes bekommen: Jedes Mal, wenn er sich nach Qualifying oder Rennen den Medien stellt, sitzt er hinter einem Tisch voller Aufnahmegeräte und beginnt, sie in einem ordentlichen Raster auszurichten - so sehr, dass Journalisten inzwischen schon versuchen, ihre Geräte vorab zu positionieren. Stella wird trotzdem noch ein paar korrigieren, einen Scherz machen - und dann in der ruhigen, didaktischen Stimme eines Universitätsprofessors die Fragen beantworten.
Oscars Funknachrichten? Kein Problem, sagt Stella - im Gegenteil. Genau das erwarte das Team: dass seine Mitglieder, Fahrer eingeschlossen, offen sprechen, Fragen stellen, Diskussionen anstoßen. Piastri tue also genau das Richtige.
Das entsprach auch dem, was Stella nach Silverstone sagte, als der Australier fragte, ob das Team wegen einer unfairen Strafe einen Platztausch erwägen würde.
Es bleibt dabei: Erst kommt McLaren
Man kann anderer Meinung sein, was in Monza geschah. Man kann kritisieren, wie McLaren im vergangenen Jahr in Ungarn handelte. Und jeder, der auf sozialen Plattformen einen Spitznamen hat, kann das Team dafür verspotten. Doch - so betont Stella ruhig - die Entscheidung, wie McLaren vorgeht, trifft allein das Team. Und diese Entscheidung werde immer erst fallen, nachdem man "offen gesprochen" und "gelernt" habe, um "stärker zu werden".
So langweilig und unspektakulär dieses Mantra klingen mag - es ist bewundernswert. Denn es könnte genau der Faktor sein, der diese Gruppe von Menschen - "die Männer und Frauen bei McLaren", wie Stella sie nennt - so stark und erfolgreich macht. Nicht Stella allein.
Man kann die Methoden und die Kontrolle über die Fahrer kritisieren - bis hin zu dem Punkt, an dem sie kaum noch frei über ihre eigenen Funkbotschaften sprechen dürfen, wenn sie den Medien gegenüberstehen.
Doch am Ende zählt nur eines: das Ergebnis. McLaren hat nicht nur zum zweiten Mal in Folge die Weltmeisterschaft gewonnen - das Team tat es in diesem Jahr mit sechs Rennen Vorsprung. Und einer seiner Fahrer wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch den Fahrertitel holen.
Gil wäre sicher stolz.
Euer
Oleg Karpow