Meinung: Wie die Formel 1 mit dem Warm-up ein Stück Identität aufgab
Der Rennmorgen in der Formel 1 hatte einst seinen eigenen Zauber: Mit dem Ende des Warm-ups verschwand mehr als nur eine halbe Stunde Fahrzeit
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
Formel-1-CEO Stefano Domenicali denkt laut über eine Verkürzung des Grand-Prix-Wochenendes nach und will am liebsten gleich das Freie Training streichen. Für viele klingt das nach einem logischen Schritt in einer Zeit, in der Aufmerksamkeitsspannen kürzer werden und das Produkt Rennsport möglichst kompakt serviert werden soll. Für mich ist das jedoch ein weiterer Stich ins Herz, denn ich habe den Verlust des morgendlichen Warm-ups bis heute nicht verkraftet.
Ich spreche hier nicht als Journalist, der ohnehin genug zu tun hat im Fahrerlager, sondern als Fan. Aus meiner Perspektive gehörte die halbe Stunde Fahrzeit am Rennmorgen untrennbar zum Erlebnis eines Rennwochenendes. Es war der Moment, um die Autos in Ruhe zu betrachten, die Fahrer zu erkennen und die Atmosphäre des Rennsonntags aufzusaugen. Ohne Warm-up fühlte es sich für mich immer an, als würde ich blind ins Rennen gehen.
Gerade bei Sportwagenrennen, etwa in Brands Hatch, war es ein essenzieller Teil meines Besuchs. Die Fahrerbesetzungen änderten sich häufiger, die Lackierungen ebenso, manchmal sogar das gesamte Erscheinungsbild der Autos. Ich erinnere mich noch gut an den Richard-Lloyd-Porsche 956, der 1984 plötzlich mit einem improvisierten Frontflügel aufkreuzte. Hätte ich dieses Detail nur im Rennen entdeckt, wäre mein mühsam geführtes Rundenprotokoll sofort durcheinandergeraten.
Die einzigartige Stimmung am Sonntagmorgen
Der Reiz lag aber nicht nur im Technischen. Es war die Stimmung am Morgen, die das Erlebnis besonders machte. Das erste Aufheulen der Motoren, der Geruch von Benzin und gebratenem Speck, die Mischung aus Vorfreude und Nervosität - das alles prägte mein Bild von einem britischen Rennwochenende.
Ohne Warm-up hätte ich etwa nie die Chance gehabt, den Lotus 80 live zu erleben. Dieses wunderschöne, aber kurzlebige Auto kam nur bei wenigen Veranstaltungen 1979 zum Einsatz. Ich war damals elf Jahre alt, bewaffnet mit einer Kodak Instamatic, und machte ein miserables Foto, das ich bis heute wie einen Schatz aufbewahre.
Besonders lebendig ist mir auch das nicht zur WM zählende Race of Champions in Brands Hatch 1983 in Erinnerung geblieben, das bis heute letzte Einladungsrennen in der Geschichte der Formel 1. Nelson Piquet war in der Starterliste angekündigt, tauchte aber nicht auf.
Erkenntnis im Warm-up: Da fährt ja gar nicht Piquet!
Stattdessen saß Hector Rebaque im Brabham-BMW BT52 und drehte sich im Warm-up prompt direkt vor meiner Nase. Der Piquet-Fan neben mir, ausgestattet wie der Vorsitzende des brasilianischen Fanclubs, begriff erst in diesem Moment, dass sein Idol gar nicht am Start stand. Ohne Warm-up hätte er vermutlich das ganze Rennen über einen Fahrer angefeuert, der gar nicht dabei war.
Natürlich weiß ich, dass Domenicali mit seinen Plänen nicht an Veteranen wie mich denkt. Für Liberty Media zählt vor allem das TV- und Streaming-Publikum, nicht die Fans an der Strecke. Trotzdem halte ich es für einen Fehler, den Spannungsbogen eines Wochenendes immer weiter zu verkürzen.
Große Sportgeschichten leben davon, dass sie sich entwickeln können - über Jahre, über eine Saison oder über ein einziges Event. In der Formel 1 geschieht das klassisch von Freitag über Samstag bis zum Sonntag. Das Warm-up war ein Teil davon, so klein es auch wirken mag.
Warum auch lange Formate ihren Reiz haben
Andere Sportarten zeigen, dass Langformate ihren Reiz behalten. Niemand fordert ernsthaft, das Fünfsatz-Format im Wimbledon-Finale abzuschaffen oder ein Fußballspiel zu verkürzen. Selbst das 24-Stunden-Rennen von Le Mans lebt davon, dass man sich auf eine lange Reise einlässt. Der schnelle Kick mag verlockend sein, aber er ersetzt nicht die erzählerische Tiefe eines Sportereignisses.
Vielleicht bin ich ein Dinosaurier, der an alten Traditionen hängt. Aber ich erinnere mich mit großer Zuneigung an die morgendlichen Warm-ups, und ich bin dankbar, dass ich dank ihnen Erlebnisse sammeln durfte, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben sind. Ob der Piquet-Fan von damals wohl genauso denkt?
Euer Gary Watkins