• 07. März 2024 · 09:12 Uhr

Sind die Vorwürfe gegen Sulayem Vorboten für eine "Piratenserie"?

Kommentar: Hat Mohammed bin Sulayem wirklich seine Grenzen überschritten? Und wer hätte Interesse daran, seine Position als FIA-Präsident zu schwächen?

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,

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Stefano Domenicali und Mohammed bin Sulayem vertreten unterschiedliche Interessen Zoom Download

Lewis Hamilton sagt, er ist "nicht überrascht", dass gegen FIA-Präsident Mohammed bin Sulayem eine Compliance-Untersuchung eingeleitet wurde. Kein Wunder: Ausgerechnet sein Chef Toto Wolff und dessen Ehefrau Susie waren von 5. bis 7. Dezember 2023 Gegenstand einer von Insidern als fragwürdig eingestuften FIA-Compliance-Untersuchung, die für Riesenaufregung in der Formel 1 sorgte und schnell wieder beendet war. Es war nicht die erste, aber es war eine der unrühmlicheren Episoden, in der die Sulayem-Administration keine besonders gute Figur abgegeben hat.

Unvergessen ist sein bizarrer Auftritt bei der FIA-Gala 2022 in Bologna, als er auf der Bühne gegenüber Christian Horner beinahe eskaliert wäre und von Formel-1-CEO Stefano Domenicali eingefangen werden musste. Oder auch 2023 in Baku, als er es offensichtlich witzig fand, augenzwinkernde Kommentare über Compliance zu machen, obwohl gerade die Wolff-Affäre hohe Wellen geschlagen hatte.

Jetzt steht Sulayem selbst im Fokus der FIA-internen Compliance. Erstens, weil er beim Grand Prix von Saudi-Arabien 2023 versucht haben soll, auf die Rennkommissare einzuwirken, damit diese eine Strafe gegen Fernando Alonso zurücknehmen. Und zweitens, weil behauptet wird, er soll FIA-Mitarbeiter beauftragt haben, beim Grand Prix von Las Vegas 2023 Gründe zu finden, das Rennwochenende absagen zu können.

Tatsache ist, dass es jemanden gibt, der die Vorwürfe gegen Sulayem so formuliert hat. Das bedeutet nicht zwingend, dass es sich wirklich so zugetragen hat. Für den Präsidenten gilt in dieser Angelegenheit genauso die Unschuldsvermutung wie für Christian Horner in der Horner-Affäre. Unschuldig bis zum Beweis der Schuld.

Frage nach Sulayems Motiv bleibt unklar

In der Saudi-Alonso-Story erscheint mir allerdings nebulös, was Sulayems Motiv gewesen sein soll. Vielleicht eine Verbindung zu Aramco, dem Titelsponsor von Alonsos Team Aston Martin, wegen des gemeinsamen arabischen Backgrounds?

Das erscheint ziemlich unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass ihm seine Tweets über eine angebliche Aramco-Übernahme der Formel 1 (zu der es bisher nicht gekommen ist) eine Menge Ärger eingebracht haben.

Plausibler erscheint, dass Sulayem, wie tausende andere Formel-1-Fans auch, das Rennen gesehen und sich gewundert hat, wie jemand so kleinlich sein kann, wegen einer klitzekleinen Berührung, die null Einfluss auf das sportliche Ergebnis hatte, eine Strafe auszusprechen. Womöglich fand er es nicht gerecht, Alonso den dritten Platz wegen einer solchen Kleinigkeit abzuerkennen.

Dass er dann Scheich Abdullah bin Hamad bin Isa Al Chalifa angerufen hat, der als FIA-Vizepräsident für Sport im Nahen Osten und Nordafrika in offizieller Kapazität in Saudi-Arabien war, und diesem mitteilte, was er von der Alonso-Strafe hielt, halte ich für durchaus denkbar.

Jeder Vollprofi, der halbwegs weiß, wie moderne Compliance-Standards anno 2023 aussehen, würde sich niemals dazu verleiten lassen, solche Anrufe zu machen. Sulayem halte ich für naiv genug, das zu tun. Der 63-Jährige ist Motorsportler aus Leidenschaft, ist früher selbst Marathonrallyes gefahren, und manchmal gehen die Emotionen so mit ihm durch, dass er völlig zu vergessen scheint, was für eine Verantwortung das Amt des FIA-Präsidenten mit sich bringt.

Doch sollte es den Anruf wirklich so gegeben haben, und sollte er sich so zugetragen haben, wie das gegenüber der FIA-Compliance von einem Whistleblower dargestellt wird, dann stellt sich immer noch die Frage, welches Motiv Sulayem gehabt haben soll, und welche böse Absicht dahinterstecken könnte.

Geld kann es jedenfalls nicht sein. Sulayem stammt aus einer wohlhabenden Familie, und seine persönliche Supersportwagen-Sammlung gilt als eine der größten in der Vereinigten Arabischen Emiraten.

Und: Dann müssen sich auch die Rennkommissare einige unbequeme Fragen stellen lassen, denn, ja, sie sollten niemals in die Verlegenheit geraten, ihre Unabhängigkeit wegen einer Weisung des FIA-Präsidenten zu verlieren. Gleichzeitig wissen sie ganz genau, dass sie eine Weisung nicht berücksichtigen dürfen, nicht einmal von ihrem eigenen Präsidenten.

Insofern halte ich für Saudi-Alonso-Story nicht für eine Episode, die den nötigen Sprengstoff hat, zur echten Belastung für Sulayem zu werden.

Las Vegas: Absage hätte Sulayem mutmaßlich gefallen können

Ein bisschen anders sieht's da schon bei der Vegas-Story aus. Es ist wahrlich kein Geheimnis, dass Sulayem kein großer Freund von Stefano Domenicali ist, auch wenn beide in der Öffentlichkeit stets das Gegenteil behaupten.

Das nimmt, von außen betrachtet, teilweise abstruse Züge an. Als etwa Liberty Media auf die Idee kam, einen prachtvollen Palast als neue Hospitality in den Paddock zu stellen, mit einem eigenen Balkon für CEO Domenicali, dauerte es nicht lang, bis die FIA eine nahezu baugleiche Hospitality im Paddock aufbaute.

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Die neuen Motorhomes von Liberty Media und der FIA im Formel-1-Paddock Zoom Download

Dass Sulayem Befriedigung daraus schöpfen könnte, Domenicali und Liberty Media ausgerechnet die große Party in Las Vegas zu ruinieren, das Showcase-Event des amerikanischen Medienkonzerns, das erscheint vielen Branchenkennern durchaus plausibel.

Vorgeschichte: Warum Sulayem Liberty ein Dorn im Auge ist

Dazu muss man wissen: Es ist noch gar nicht so lang her, dass sich FIA-Präsident den öffentlichen Zorn von Liberty Media zugezogen hat. Grund dafür war eine Reihe von Tweets, die bin Sulayem abgesetzt und mit denen er Medienberichte kommentiert hat, wonach die Formel-1-Rechte für kolportierte 20 Milliarden US-Dollar nach Saudi-Arabien verkauft werden könnten.

Der FIA-Präsident hatte am 23. Januar 2023 unter anderem getwittert, dass die FIA als "Hüter des Motorsports vorsichtig" sei, "wenn es um angeblich überhöhte Preisschilder von 20 Milliarden Dollar für die Formel 1 geht". Und er forderte potenzielle Käufer dazu auf, "gesunden Menschenverstand walten zu lassen" [...].

Tweets, die von Liberty Media als geschäftsschädigend eingestuft wurden. Die FIA habe zugesagt, "dass sie nichts unternehmen wird, was [...] die kommerziellen Rechte beeinträchtigen könnte. Wir sind der Ansicht, dass diese Kommentare, die über den offiziellen Social-Media-Account des FIA-Präsidenten geäußert wurden, in diese Rechte auf inakzeptable Weise eingreifen."

Die Logik dahinter ist klar: Am 23. Januar, dem Tag der Sulayem-Tweets, schloss die Formel-1-Aktie bei einem Kurs von 70,52 US-Dollar. Tags darauf war sie nur noch 69,80 Dollar wert. Dass das eine unmittelbare Konsequenz der Tweets war, lässt sich nicht beweisen. Dass Liberty Media genau das befürchtet hat, steht jedoch außer Zweifel.

Sulayem wurde in einem Brief öffentlich gerügt. Im Nachhinein findet er, dass die Affäre aufgebauscht wurde - und er missverstanden. Die Tweets seien "meine persönliche Meinung" gewesen. Und wenn man sie genau liest, habe er das Wort "alleged" ("angeblich") in Zusammenhang mit dem seiner Meinung nach überhöhten Kaufpreis verwendet. Also alles okay.

Für ihn zumindest. Domenicali und Liberty Media scheinen das nicht so locker zu sehen.

Wenig später passierte dann auch noch die Andretti-Geschichte, in der die FIA super dasteht, weil sie Andretti in der Formel 1 zulassen würde, sodass sich Liberty Media den Schuh des Bösen anziehen musste, der Andretti verhindert hat. Auch das hat den Entscheidern bei Liberty mutmaßlich nicht gefallen.

Wer hat ein Motiv, Sulayems Glaubwürdigkeit zu untergraben?

Genauso, wie Sulayem genug persönlich Motive hätte, sich zu freuen, wäre Las Vegas wirklich abgesagt worden, gibt es auf der Seite von Liberty Media genug Motive, sich zu freuen, sollte Sulayems Glaubwürdigkeit in Misskredit gezogen werden, sodass er eines Tages aus dem Amt entfernt werden muss. Denn Liberty Media und Sulayem, das wird in diesem Leben keine Liebesbeziehung mehr.

Liberty Media ist eine Aktiengesellschaft, und für eine Aktiengesellschaft ist das Unternehmensergebnis oberste Priorität. Sulayem repräsentiert hingegen die Interessen der FIA. Er muss sich einsetzen für das, was die Sportler wollen, er muss die Sicherheit sicherstellen, er muss das Interesse des Sports in den Vordergrund rücken. Geld sollte auf der FIA-Seite der Formel 1 nie ein Handlungsmotiv sein.

Dass sich die Interessen von Liberty Media und der FIA also nicht immer decken, liegt in der Natur der Sache. Und es hat mich auch nicht weiter verwundert, dass mir hochrangige Mitarbeiter von zwei Teams in den vergangenen Monaten mehrmals die Frage gestellt haben, ob ich es nicht für denkbar hielte, dass Liberty Media und die Teams die Formel 1 einfach selbst veranstalten, ohne FIA.

Was impliziert: Es gibt Strömungen hinter den Kulissen der Formel 1, die würden am liebsten eine "Piratenserie" ohne FIA gründen, in der alles auf Show und Gewinnmaximierung getrimmt werden kann, ohne die Spielverderber eines manchmal bürokratisch regulierten Verbands.

Meine Antwort auf diese Frage lautet übrigens immer, dass ich das nicht für sinnvoll halte. Die FIA besitzt die Namensrechte der Formel-1-Weltmeisterschaft, und wenn Liberty Media und die paar Teams, die mit der Idee sympathisieren, ihr eigenes Ding wirklich durchziehen sollten, dann würde man all die Historie, die die Formel 1 zu dem gemacht hat, was sie heute ist, nicht mehr nutzen können.

Allein schon die Vorstellung, dass Lewis Hamilton als möglicher Superstar einer solchen "Piratenserie" dann kein siebenmaliger Weltmeister mehr wäre, sondern (statistisch gesehen) genauso ein blutiger Anfänger wie jeder Rookie, der aus der Formel 2 daherkommt, mutet absurd an.

Wesentlich einfacher wäre es da schon, Sulayem als unliebsamen und manchmal "patscherten" (wie wir in Österreich das formulieren würden) FIA-Präsidenten loszuwerden und bei der nächsten Wahl vielleicht aus dem Hintergrund einen eigenen Kandidaten aufzustellen, den man im Sinne von Liberty Media besser kontrollieren kann.

Arbeitet der Whistleblower für Liberty Media?

Es ist in diesem Kontext schon spannend, dass sich die Anzeichen dafür verdichten, dass der Whistleblower, der die Beschwerden gegen Sulayem eingereicht hat, nach Informationen von Motorsport-Total.com heute für die Formel 1 (also Liberty Media) arbeitet.

Es handelt sich dabei möglicherweise um eine Person, die zwischen 2017 und Januar 2023 direkt für die Formel 1 gearbeitet hat, dann für nicht einmal ein Jahr in hochrangiger Position bei der FIA war und anschließend wieder zur Formel 1 zurückgekehrt ist.


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Die Formel 1 steht nicht konkret im Verdacht, einen "Maulwurf" bei der FIA eingeschleust zu haben. Aber würde man eine feindliche Organisation unterwandern wollen, um von innen heraus belastende Informationen über sie zu sammeln, man würde es genau so machen. Das kommt jedem in den Sinn, der schon mal einen Hollywood-Agentenfilm gesehen hat.

FIA muss höchste Transparenzstandards anlegen

Dies ist keine Verteidigung des FIA-Präsidenten Mohammed bin Sulayem. Er hat sich in der Vergangenheit schon so viele Fauxpas geleistet, dass ich es für durchaus denkbar halte, dass er seine Grenzen auch in anderen Situationen überschritten hat. Sollte ihm das die FIA-Compliance nachweisen können, dann erleidet seine Glaubwürdigkeit großen Schaden.

Das gilt es jetzt zu prüfen, und die FIA wäre gut beraten, dabei die höchsten Standards an Transparenz anzulegen, die es gibt. So, wie das einige Beteiligte auch in der Horner-Affäre fordern. Zum Beispiel wäre es ein transparentes Vorgehen, nach Abschluss der Ermittlungen auch das Transkript der Befragung des FIA-Präsidenten und anderer Zeugen vorzulegen.

Doch klar ist auch, dass die FIA gerade zum Ziel einer Attacke von außen geworden ist. Und es scheint ziemlich auf der Hand zu liegen, wer in dieser Hinsicht der Hauptverdächtige ist.

Wie auch der Zeitpunkt womöglich kein Zufall ist. Ende 2025 laufen die aktuellen Concorde-Verträge aus, und die Stakeholder der Formel 1 müssen sich auf eine neue (auch kommerzielle) "Verfassung" für die nächsten Jahre einigen.

Ein starker FIA-Präsident, für den in erster Linie nicht die Gewinnmaximierung wichtig ist, sondern die Agenden, für die er als Hüter des Motorsports einstehen muss, könnte da einigen Stakeholdern ein Dorn im Auge sein ...

Euer Christian Nimmervoll


Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.

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