• 28. Juni 2021 · 06:33 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lewis Hamilton

Warum Toto Wolff und Lewis Hamilton im WM-Kampf 2021 womöglich abweichende Interessen haben und wie kompliziert die Weichenstellung für die Zukunft ist

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lewis Hamilton

Verhandeln gerade: Lewis Hamilton im Gespräch mit Mercedes-Chef Toto Wolff Zoom Download

mein Kollege Kevin Scheuren hat mir am Sonntagabend in der Formel-1-Videoanalyse auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de George Russell als Thema für die heutige Kolumne ans Herz gelegt. Der Williams-Pilot hat vielleicht sogar wirklich schlecht geschlafen, weil, so meint Kevin, gleichzeitig Valtteri Bottas, sein großer Konkurrent ums Mercedes-Cockpit 2022, ein ordentliches Rennen abgeliefert hat.

Stimmt. Aber ich lege meine Perspektive in dieser Kolumne gern ein bisschen größer an, und mit dem Blick aufs große Ganze hat Russell nach dem Grand Prix der Steiermark in Spielberg nicht den geringsten Grund, sich Sorgen zu machen. Denn wenn überhaupt, dann sind seine Aktien am Red-Bull-Ring eher gestiegen, weil ihm niemand den fehlenden Stickstoff im Pneumatiksystem als Schwäche auslegen wird, aber jeder seine grandiose Performance gesehen hat.

Die Zeit, in der sich Russell nach solchen Ausfällen wochenlang ärgern wird, die wird noch kommen in seiner Karriere. Etwa, wenn ihn sein Mercedes-Motor im Stich lässt und ihn das womöglich den WM-Titel kostet, so wie bei Lewis Hamilton in Malaysia 2016. Aber ob er jetzt in Spielberg 2021 vier Punkte geholt hat oder nicht, das wird die Bilanz seiner Formel-1-Karriere nicht nachhaltig eintrüben.

Hamilton: Schlecht geschlafen wegen Zukunftsdilemma?

Apropos Hamilton: Da sind wir auch schon bei dem Kandidaten, der für mich der wahre Verlierer des vergangenen Wochenendes war. Nicht etwa, weil er wahnsinnig viel falsch gemacht hätte - ganz und gar nicht; der siebenmalige Weltmeister hat wie so oft eine blitzsaubere Leistung geboten und seinen Teamkollegen Bottas in den Schatten gestellt. Sondern weil sich in seiner Karriereplanung gerade ein Dilemma auftut.

Sir Lewis wird nach dieser Saison 37 und ist damit fast so alt wie ich. Ziemlich alt also. Fast rücktrittsreif, könnte man sagen. Nun ist der Mercedes-Star natürlich wesentlich fitter als ich, aber in dem Alter ist er, sagen wir mal so, dem Ende seiner Karriere in der Formel 1 sicher näher als dem Anfang. Nicht ausgeschlossen, dass er auch mit 40 noch fährt. Eigentlich habe ich ihn aber nie für einen gehalten, der a la Kimi Räikkönen Jahr für Jahr anhängt, obwohl die Jungen immer lauter werden.

Nun hätte für Hamilton alles so perfekt sein können: 2021 ein achtes Mal Weltmeister werden und den alten Rekord von Michael Schumacher knacken, der also doch nicht für die Ewigkeit gehalten hat, sondern nur 17 Jahre. Und dann als neuer Grandseigneur der Formel 1 zurücktreten. Vielleicht auch den Vertrag mit Mercedes noch einmal verlängern, falls absehbar ist, dass der 2022er-Silberpfeil auch wieder eine Granate wird, und 2022 und 2023 noch die Titel Nummer 9 und Nummer 10 nachlegen.

Aber "Good Things Don't Come Easy", das hat Irma Thomas schon 1967 gesungen, und das gilt jetzt auch für Hamilton. Sein Vertrag läuft Ende 2021 aus, und aktuell sieht es nicht so aus, als sei Titel Nummer 8 in dieser Saison ein Selbstläufer. Nach Spielberg 1 muss man ganz im Gegenteil sagen: Stand heute wäre es eher eine kleine Überraschung, sollte Hamilton Weltmeister werden und nicht Max Verstappen.

Wolff bleibt dabei: 2021 keine großen Updates mehr

Denn trotz der schmerzenden Niederlagen der vergangenen Wochen weicht Toto Wolff, das hat er gestern wieder einmal klar gemacht, keinen Millimeter von der Linie ab, den 2021er-Mercedes nicht mehr signifikant weiterzuentwickeln, um das 2022er-Projekt (neues Reglement) nicht zu gefährden. Ja, vielleicht komme noch das eine oder andere Mini-Update, sagt mein Landsmann; aber größere Neuentwicklungen wie ein Frontflügel, die werde es nicht mehr geben.

Als Geldausgeben noch schick war in der Formel 1 (muss irgendwann gewesen sein, bevor die Budgetobergrenze eingeführt wurde), da hätte man bestenfalls gelacht, wenn ein Team, das Weltmeister werden will, schon nach dem ersten Saisondrittel sagt, dass es sich von jetzt an nicht mehr in so enorme Neuinvestitionen wie einen neuen Frontflügel stürzen wird (man bemerke den ironischen Subtext). Ältere Semester wie ich erinnern sich sogar noch an so verrückte Zeiten, in denen Teams für einen einzigen Grand Prix (Monaco) ein eigenes Auto mit verkürztem Radstand gebaut haben!

Was das alles mit Hamilton zu tun hat? Nun, der verhandelt gerade seinen neuen Vertrag mit Toto Wolff. Man sei schon ein gutes Stück weitergekommen dabei, ist die neueste Wasserstandsmeldung aus dem Hause Mercedes. Was mich dabei interessieren würde: Geht's wieder nur um einen Einjahresvertrag, weil sich Sir Lewis die Option offenhalten möchte, sich den wichtigeren Dingen des Lebens zu widmen, oder kann er sich trotz seiner bald 37 Jahre vorstellen, nochmal einen Zwei-, Drei- oder sogar Vierjahresvertrag zu unterschreiben?

Die "sichere" Variante aus Hamiltons Sicht (redet sich leicht) wäre gewesen, 2021 noch einmal Weltmeister zu werden und als Achtmaliger abzudanken. "The Greatest", quasi, wie sein großes Vorbild Muhammad Ali. Ohne Wenn und Aber. Doch Mercedes, Ineos und Wolff müssen an die Zukunft denken (nicht nur an die nächsten zwei Jahre), und mit dem 2022er-Projekt werden die Weichen (zumindest!) bis 2025 neu gestellt. Ein bisschen so, wie das zuletzt 2014 der Fall war.

Rückblende: So hat Mercedes 2013 die Weichen gestellt

Damals, 2013, waren Red Bull, Ferrari und McLaren damit beschäftigt, um die WM zu kämpfen, und haben ganz übersehen, dass Mercedes längst ein millionenschweres Entwicklungsprogramm angeworfen hatte, um den besten Hybridmotor der Formel 1 zu bauen. Der Plan ging auf: Seit 2014 hat Mercedes keinen einzigen WM-Titel mehr verloren.

Aber die Einführung der Budgetobergrenze bereits ein Jahr vor dem Reformreglement führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es 2021 und 2022 unterschiedliche Weltmeister geben wird, hoch ist. Denn wer 2021 alles in die Waagschale wirft, um Champion zu werden, dessen Chancen werden 2022 und die Jahre danach mutmaßlich ein bisschen geringer sein.

Von außen betrachtet gewinnt man derzeit den Eindruck, dass Red Bull nach einer Durststrecke von sieben Jahren ohne WM-Titel eher dazu bereit ist, für 2022 Kompromisse einzugehen, als das bei Mercedes der Fall ist. Was eigentlich für alle Hamilton- und Mercedes-Fans ein positives Signal sein müsste: Wenn man bewusst die Entscheidung trifft, 2021 notfalls zu opfern, dann deutet viel darauf hin, dass Hamilton weitermachen wird, und wahrscheinlich auch länger als ein Jahr.

Der siebenmalige Champion hat in Spielberg schon anklingen lassen, dass er sich noch mindestens ein größeres Update für seinen F1 W12 E Performance wünschen würde; bekommen wird er das aber laut Wolff nicht. Ein Indiz für unterschiedliche Interessen in der strategischen Zukunftsplanung.

Wie gewichtig ist Hamiltons Wort für die Mercedes-Zukunft?

Dass die beiden diese Weichenstellung für die nächsten Jahre in ihren Vertragsverhandlungen noch nicht besprochen haben, das halte ich für ausgeschlossen. Wenn es eine bewusste Entscheidung ist, nicht alles auf 2021 zu setzen, um bestenfalls von 2022 bis 2025 die nächsten vier WM-Titel hintereinander zu gewinnen, dann wird darüber auch Hamilton informiert sein. Und vielleicht tritt er dann halt nicht 2021 als achtmaliger, sondern 2025 als elfmaliger Titelträger zurück?

Oder aber Hamilton darf 2022 noch seinen achten (und 2023, nach zwei gemeinsamen Übergangssaisons, vielleicht einen neunten) Titel holen und übergibt dann den Stab an seinen designierten Nachfolger George Russell, der die Siegesserie von Mercedes danach nahtlos fortsetzt. Alles denkbar. Aber, das wird mir Toto Wolff sicher wieder unter die Nase reiben, sollte er diese Kolumne lesen: Man sollte das Fell nie aufteilen, bevor der Bär erlegt ist. Stimmt, Toto!

Wie dem auch sei: Es ist eine spannende Konstellation gerade, die Weichenstellung 2021 vs. 2022, die mit den Vertragsverhandlungen zwischen Hamilton und Mercedes und dem WM-Kampf gegen den aufstrebenden Superstar Max Verstappen zusammenfällt. Denn, um noch einmal kurz den Bären und sein Fell zu strapazieren: Selbst wenn Hamilton weitermachen sollte - garantieren, dass er 2022 Weltmeister wird, wenn er 2021 kein Update mehr bekommt, kann ihm niemand. Auch Toto Wolff nicht ...

Übrigens: Wenn Du jetzt mit mir und meinem Kollegen Stefan Ehlen (Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat: Max Verstappen) über dieses Thema diskutieren möchtest, dann geht das nicht nur auf meiner persönlichen Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Sondern auch am Montagabend im Livestream #LetzteNacht auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de (Livechat-Funktion für unsere User). Wir sehen und lesen uns um 19:00 Uhr - bis dann!

Dein Christian Nimmervoll

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