Zehnder exklusiv nach 33 Jahren in der Formel 1: "Nur einmal habe ich geweint"
Nach über 600 Rennen bleibt Sauber-Sportdirektor Beat Zehnder künftig auch mal zu Hause - Im exklusiven Interview blickt der Schweizer auf seine Formel-1-Zeit zurück
(Motorsport-Total.com) - In Imola feierte Sauber den 600. Grand Prix - von den bescheidenen Anfängen im Jahr 1993 bis zu einer Geschichte voller Höhen und Tiefen, geprägt von Herstellerpartnerschaften und Phasen als unabhängiges Team. Im kommenden Jahr wird Sauber zum offiziellen Werksteam von Audi.
Ein Mann war bei jedem einzelnen dieser Rennen dabei: Beat Zehnder, langjähriger Sportdirektor des Teams. Während Sauber sein Jubiläum beging, feierte auch Zehnder ein ganz persönliches. Der Schweizer hat alles miterlebt: Mercedes, BMW und Red Bull kamen und gingen.
Es gab überraschende Podien und den magischen Sieg beim Großen Preis von Kanada 2008 mit Robert Kubica. Aber auch harte Zeiten, in denen das Team mehrmals knapp vor der Insolvenz stand. Doch alle guten Dinge haben ein Ende: Zehnders Serie endete nach dem Rennen in Monaco.
Der Schweizer wechselt in eine werkseigene Funktion als "Director of Signature Programs and Operations" - mit dem Ziel, die Infrastruktur zu erweitern und ein Testteam aufzubauen. Der perfekte Zeitpunkt für einen Rückblick auf die Karriere des Sauber-Urgesteins, denn 33 Jahre in der Formel-1-Boxengasse sind schon für sich beeindruckend.
So kam Zehnder zu Sauber in die Formel 1
Umso bemerkenswerter ist es, wenn man bedenkt, dass der heute 59-Jährige ursprünglich gar nichts mit Motorsport am Hut hatte, wie er im ausführlichen Interview mit Motorsport.com, einer Schwesterplattform von Motorsport-Total.com im Motorsport Network, erzählt:
Beat Zehnder: "Ich habe eine Lehre als Mechaniker gemacht und dabei an den größten Schiffsmotoren gearbeitet, die je gebaut wurden. Riesige Motoren mit über 110.000 PS, 14 Meter hoch. Das Kuriose war: Sie wurden mitten im Binnenland Schweiz gebaut."
"Jedes Mal, wenn eine Serie von Motoren an ein Schiff geliefert wurde - entweder ein Luxuskreuzer oder ein Öltanker - reiste ein Mechaniker für zwei Jahre mit. Das wollte ich machen. Ich wollte die Welt sehen. Zu dieser Zeit hat man dann aber gemerkt, dass es günstiger ist, Motoren in der Nähe des Wassers zu bauen und nicht mitten in der Schweiz, also wurde die Produktion dort eingestellt."
"Ich bin immer mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Eines Tages hatte ich einen Platten und musste den Zug nehmen. Dort sah ich in der Zeitung eine Anzeige von der PP Sauber AG, die einen Rennmechaniker suchte. 'Bereit, die Welt zu bereisen' - das war genau das, was ich wollte, also rief ich sofort an."
"Er lud mich zu einem Vorstellungsgespräch ein, das zehn Minuten dauerte, weil er meinte, ich sei mit 20 Jahren zu jung, hätte keine Erfahrung und nicht einmal Interesse am Motorsport. Sie fuhren damals Sportwagenrennen, und ich hatte keine Ahnung, was sie mit diesen Gruppe-C-Autos machten."
"Er hatte also vollkommen recht, mich abzulehnen. Aber es ließ mich nicht los, und drei Wochen später rief ich ihn erneut an. Und dann stellte er mich sofort ein, weil er Leute brauchte, um Autos zu bauen."
Frage: "Nicht viele hätten Peter drei Wochen später noch einmal angerufen - aber Sie wollten sich nicht mit einem Nein zufriedengeben."
Beat Zehnder: "Ja, es war wohl die härteste Zeit für das Team, aber auch die befriedigendste. Wir waren ein Haufen junger Leute. Ich war Mitarbeiter Nummer neun insgesamt. Wir hatten Peter Sauber, einen Teammanager, einen Technischen Direktor und eine Sekretärin, dazu fünf Mechaniker. Wir bauten das gesamte Auto selbst auf. Drei Wochen nach meinem Einstieg musste ich zum ersten Rennen nach Jerez."
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Frage: "Sauber war ein Spitzenreiter in der Sportwagen-WM, mit Unterstützung von Mercedes. Dann stieg der Hersteller aus und wechselte zu McLaren als Motorenpartner in der Formel 1. Das muss ein Rückschlag gewesen sein. Doch Peter Sauber entschied sich trotzdem für den Einstieg in die F1."
Beat Zehnder: "Wir haben Mercedes' Entscheidung nicht kommen sehen. Wir hatten ein gutes Projekt mit Harvey Postlethwaite als Technischem Direktor und Mike Gascoyne als seinem Assistenten. Als Mercedes den Stecker zog, ging Harvey. Mike blieb noch ein bisschen. In der Folge sind wir 1992 nicht gefahren, sondern haben uns auf das vorbereitet, was kommt, denn die Infrastruktur eines Sportwagenteams war völlig anders als in der Formel 1."
Frage: "1993 war das Team sofort recht konkurrenzfähig. Sie wurden Siebter in der Konstrukteurswertung mit Karl Wendlinger und JJ Lehto."
Beat Zehnder: "Wir hatten ein halbes Jahr zum Testen, aber ja, es war ziemlich gut. Nicht viele Autos kamen beim ersten Rennen in Kyalami ins Ziel. Hypothetisch hätte Wendlinger auf dem Podium landen können, aber er hatte ein elektrisches Problem. Es hat sich gelohnt, weil es ein sehr kleines Team war und unglaublich viel Arbeit dahintersteckte. Damals waren wir rund 120 bis 150 Leute."
Zehnder wollte nach Imola-Tragödie aufhören
Frage: "Dann kam 1994, ein dunkles Jahr für die Formel 1. Roland Ratzenberger und Ayrton Senna starben in Imola, Wendlinger verunglückte schwer in Monaco. Wie schwer war dieses Jahr?"
Beat Zehnder: "Oh, es war furchtbar. Ich wollte nach Imola aufhören, denn ich war neu im Rennsport, und das war für mich eine völlig neue Situation. Ich kannte Ratzenberger aus dem Sportwagenbereich. Richtig wütend machte mich, dass beim Boxenstopp von Michele Alboretos Minardi ein Rad abging und wie ein Geschoss durch die Mechaniker von Lotus und Ferrari schoss."
"Niemand dachte daran, das Rennen zu stoppen oder wenigstens die Boxengasse zu schließen, um Rettungskräfte hereinzulassen. Man trug sie einzeln ins Medical-Center, während Autos durchfuhren. Für mich war das nicht akzeptabel. Ich ging zu Peter, schüttelte ihn und schrie: 'Stoppt das Rennen!? Nach dem Rennen sagte ich ihm, ich höre auf. Aber Peter sprach lange mit mir und überzeugte mich zu bleiben."
"Noch schlimmer wurde es zehn Tage später mit Karls Unfall in Monaco an der Schikane. Ich stand neben ihm, als man ihn aus dem Auto holte, und merkte sofort, dass es nicht gut aussah, er zitterte und hatte Schaum überall. Zwei Wochen später verletzte sich Andrea Montermini in Barcelona. Es war keine gute Zeit."
"Aber im Rückblick haben wir viel gelernt. Wir waren das erste Team mit hohen Cockpitwänden, für die Peter gekämpft hat. Zunächst wollte die FIA sie nicht zulassen, weil die Cockpit-Schablone nicht passte. Dann sagte Peter: Entweder wir dürfen damit fahren, oder wir steigen aus der Saison aus. Wir verloren dadurch etwa drei bis vier km/h Höchstgeschwindigkeit wegen des Luftwiderstands. Aber am Ende überzeugten wir FIA-Präsident Max Mosley und durften starten."
Frage: "Wie entscheidend war Peter Sauber in dieser Zeit?"
Beat Zehnder: "In vielerlei Hinsicht hielt er das Team am Leben. Er war ein Vorbild. Der Name Sauber war Programm. Er war gut zu seinen Mitarbeitern, hatte keine Yachten oder Luxusautos. Weil er so bodenständig war, konnte er Partner für unser Projekt gewinnen."
"Vielleicht übertreibe ich, aber Toto [Wolff] ist wegen Peter hier. Peter brachte Mercedes zurück in den internationalen Rennsport, nach über 30 Jahren Pause seit Le Mans 1955. Red Bull und Petronas waren 1995 auf unserem Auto. Mit Red Bull hatten wir Streit über einen Fahrer: Dr. Helmut Marko wollte Enrique Bernoldi, plötzlich tauchte Kimi Räikkönen auf, und wir gingen getrennte Wege. Aber auch Credit Suisse, BMW - ohne Peter und seine Art, das Team zu präsentieren, hätten wir längst aufgeben müssen."
"Flüge und Hotels aus eigener Tasche bezahlt"
Frage: "Der Ausstieg von BMW nach 2009 traf das Team besonders hart. Man sagt, Sie hätten zeitweise Hotelzimmer aus eigener Tasche bezahlt?"
Beat Zehnder: "Als Peter das Team an BMW verkaufte, besaß er 33 Prozent der Anteile, 67 Prozent gehörten Credit Suisse. Von dem Erlös musste er dann 100 Prozent zurückkaufen. Die Leasingrate für den V6 war dreimal so hoch wie die für den V8, das hat uns das Genick gebrochen."
"Ja, die Geschichte stimmt. Beim Wintertest 2016 fehlten wir beim ersten Test. Für den zweiten sagte Peter, wir könnten uns die Teilnahme nicht leisten. Für mich war aber klar: Wenn wir beide Tests verpassen, sind wir de facto bankrott. Also habe ich die Flüge und Hotels aus eigener Tasche bezahlt."
"Und ich garantierte mit allen Kreditkarten, die ich hatte, die Miete für die Ausrüstung für das erste Rennen in Melbourne. Ich nutzte meine erste Kreditkarte, meine zweite, die meiner Frau. Sie war nicht so begeistert. Aber ich bekam alles zurück, auch Peter investierte viel privat. Das ging von 2013 bis 2016, dann waren die Mittel erschöpft."
Frage: "Dann übernahm Longbow Finance unter Finn Rausing im Juli 2016. Das muss eine Erleichterung gewesen sein."
Beat Zehnder: "Oh ja, absolut. Finn unterstützte schon lange Marcus Ericsson und Björn Wirdheim, wir wussten, dass er es ernst meinte. Er war ein Fan. Als ich ihn das erste Mal traf, wusste er mehr über die Geschichte von Sauber als ich. Er wusste alles über Peters Arbeit in den 60ern und 70ern. Wir hatten großes Glück, dass er kam."
Frage: "Lustigerweise ist Sauber nach Mercedes und BMW nun mit einem dritten deutschen Hersteller verbunden. Die Geschichte von Hinwil ist eine echte Achterbahnfahrt."
Beat Zehnder: "Das stimmt, aber das ging vielen Teams so - außer großen Autoherstellern. Wie oft hat Jordan seinen Namen gewechselt? Zum Glück hat sich die Formel 1 massiv verändert, der Marktwert der Teams ist heute riesig. Mit einem Hersteller hat man nicht nur finanzielle Rückendeckung."
"Es geht um Prozesse, Systeme, Werkzeuge. Eine andere Welt. In der Schweiz und in Neuburg weiß jeder, worum es geht: Wir wollen Rennen gewinnen. Nicht nächstes oder übernächstes Jahr, aber wir haben eine klare Roadmap und setzen alles daran."
"Wir investieren in einen neuen Simulator, neue Simulationswerkzeuge. Wir haben in den letzten zwei Jahren 200 Leute eingestellt und werden wahrscheinlich in den nächsten 18 Monaten weitere 200 dazuholen. Wir planen auch einen neuen Campus. Wenn man 1000 Mitarbeiter haben will, braucht man Platz."
Beat Zehnder spricht über Räikkönen-Debüt
Frage: "Wenn Sie auf die 33 Jahre zurückblicken - welche Erinnerungen stechen besonders hervor?"
Beat Zehnder: "Die meisten kann man nicht veröffentlichen! [lacht] Johnny Herbert war der witzigste Typ, den wir je hatten. Wie der das Team reingelegt hat, war unglaublich. Kimi Räikkönen war auch besonders. Nach 23 Formel-Renault-Rennen kam er direkt in die F1."
"Beim ersten Test in Mugello konnte er seinen Nacken nicht halten, wahrscheinlich die physisch brutalste Strecke. Er fuhr zwei, drei Runden, brauchte dann 45 Minuten Pause und eine Massage von Physio Josef Leberer. Michael Schumacher kam zu uns und sagte: 'Wer ist das? Seine Fahrzeugbeherrschung ist unglaublich.' Wir machten mit ihm weiter, sagten ihm aber, er solle mit Josef körperlich trainieren."
"Er war stinksauer, weil er mit seinen Freunden schon eine Party in Finnland geplant hatte. Zwei Tage sprach er kein Wort mit Josef ... Aber Kimi war sehr fokussiert. Beim ersten Rennen 2001 war er zehn Minuten vor Öffnung der Boxengasse unauffindbar. Er lag unter dem Tisch mit einer Decke. Dann sagte er: 'Gib mir noch fünf Minuten!? [lacht] Am Ende holte er als Sechster seinen ersten Punkt. Seine Reaktion: 'Na ja, fünf sind noch vor mir ...'"
Frage: "Leberer, der legendäre Senna-Physio, blieb von 1997 bis vor zwei Jahren bei Sauber. Auch Sie sind geblieben. Wie wichtig ist Loyalität für Sie und das Team?"
Beat Zehnder: "Natürlich hatte ich über die Jahre Angebote von anderen Teams. Als BMW 2005 die Übernahme ankündigte, rief mich Dietrich Mateschitz nach fünf Minuten mit einem Jobangebot an. Aber ich war Peter dankbar, dass er mir die Chance zur Entwicklung gegeben hatte."
"Und Peter sagte, er brauche mich für die Werksumstellung. Danach hatte ich Kontakt zu anderen Teams, aber es passte nie - und ich hätte das Team nicht in schwierigen Zeiten verlassen. Die Schweiz ist ein schöner Ort. Loyalität ist mir sehr wichtig."
Nach 33 Jahren endet eine Ära für Zehnder
Frage: "Mit Audis offiziellem Einstieg reisen Sie nun nach 601 Rennen nicht mehr zu jedem Grand Prix. Wie fühlen Sie sich dabei?"
Beat Zehnder: "Ich weiß es noch nicht. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich habe zu Hause zwei Bildschirme - auf einem die Strategie-Tools, auf dem anderen das TV-Bild - und lade viele Freunde ein. Oder ich nehme ein kleines Boot auf den Zürichsee, ignoriere das Rennen und schalte das Telefon aus. Wir werden sehen."
"Es ist definitiv ein neuer Lebensabschnitt. Meine Frau ist glücklich. Werde ich weinen? Ich glaube nicht. Ich habe nur einmal beim Rennsport geweint und das war 1991, als wir in Le Mans mit drei Runden Vorsprung führten und nach über 21 Stunden ausfielen. Ich werde weiterhin zu Rennen reisen, weil ich Versprechen einlösen will. Aber Monaco war mein letztes reguläres Rennen."
Frage: "Sie wollten Mechaniker werden, um die Welt zu sehen. Kann man sagen, dass Sie Ihr Abenteuer gefunden haben?"
Beat Zehnder: "Sie sagen das - aber mit dem heutigen Kalender gibt es buchstäblich keine Zeit, früher anzureisen oder länger zu bleiben. Ich war über 25 Mal in Melbourne und habe die Stadt nie gesehen. Wahrscheinlich war ich 100 Mal in Barcelona und war genau einmal in der Innenstadt. Man möchte auch mal zu Hause sein."
Frage: "Ist der Ruhestand für Sie überhaupt eine Option?"
Beat Zehnder: "Nein, nein, nein. Ich habe unglaublich viel zu tun. Eigentlich hatte ich gehofft, dass meine neue Position etwas entspannter sein würde, aber da ich für die gesamte Infrastruktur für das nächste Jahr verantwortlich bin, wie zum Beispiel die neue Hospitality von Audi, geht es um eine Menge Projekte. Mal sehen, was die Zukunft bringt. Eines ist sicher: Ich glaube nicht, dass mir in diesem Unternehmen langweilig werden wird!"