"Kontrollierte Aggressivität": Red Bulls RB20 ist ein mutiger Schritt
Ein bisschen Mercedes, viel Aggressivität und verhaltener Optimismus: Das war die Präsentation des Red Bull RB20 für die Formel-1-Saison 2024
(Motorsport-Total.com) - Wer dachte, dass sich Red Bull nach der dominantesten Saison der Formel-1-Geschichte (21 Siege in 22 Grands Prix und fünf von sechs F1-Sprints gewonnen) zurücklehnen und für 2024 ein konservativ angelegtes Auto entwickeln würde, der hat sich geirrt! Denn der am Donnerstag im Team-Hauptquartier in Milton Keynes präsentierte RB20 gehört wahrscheinlich zu den mutigsten Fahrzeugdesigns, die in diesem Winter vorgestellt wurden.
© Getty/Red Bull
Details mit Photoshop getarnt, aber so sieht der neue Red Bull RB20 aus ... Zoom Download
Red Bull war das letzte Team, das sein neues Auto noch nicht präsentiert hatte, von einem durch Amateuraufnahmen dokumentierten Shakedown am Dienstag in Silverstone einmal abgesehen. Und der Launch (der für Medienvertreter unter einer Sperrfristvereinbarung bereits tagsüber stattgefunden hat) wurde auch wegen der Spekulationen um die Zukunft von Teamchef Christian Horner mit Spannung erwartet.
Ein Thema, das von der Red-Bull-PR gleich zu Beginn abgeräumt wurde: Keine Fragen zur Horner-Affäre! Also konnten sich die Journalisten der Untersuchung wegen eines möglichen Fehlverhaltens nur indirekt nähern, indem zum Beispiel Fragen nach Horners persönlichem Befinden gestellt wurden, alibihaft losgelöst von der kontroversen Thematik.
"Es gab zwangsläufig Störgeräusche", räumt Horner immerhin ein, "aber das Team hält zusammen. Alle konzentrieren sich auf die vor uns liegende Saison. Es ist so ziemlich Business as usual." Und: "Es gibt eine Untersuchung, mit der ich voll kooperiere. Aber das passiert im Hintergrund, während wir uns auf die bevorstehende Saison konzentrieren."
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Auch Titelverteidiger Max Verstappen, dessen Vater Jos mit Horner angeblich auf Kriegsfuß stehen soll, macht einen Bogen um das Thema Horner. Er winkt ab: "Mein Leben dreht sich nicht nur um die Formel 1. Wenn ich zu Hause bin, denke ich am liebsten nicht allzu viel über die Formel 1 nach."
Red Bull RB20: Innovativ und "ein bisschen Mercedes"
Bereits um 9:30 Uhr Ortszeit begann in Milton Keynes die Aufzeichnung jenes Videos, das der Öffentlichkeit um 20:30 Uhr deutscher Zeit als "Livestream" untergejubelt wurde. Zu sehen gab's dann immerhin nicht nur eine Lackierung, sondern einen echten RB20 - in einer "Launch-Spec", die einige signifikante Designänderungen im Vergleich zum RB19 andeutet.
"Das Auto, das wir heute gezeigt haben, ist auch das Auto, das man beim Test in Bahrain sehen wird", verrät Horner. "Vielleicht kommen noch ein paar geringfügige Änderungen." Und er gibt zu: "Es ist ungewöhnlich für uns, dass wir bei der Präsentation ein echtes Auto zeigen. Aber weil der Zeitpunkt schon so nahe am Saisonbeginn liegt, hielten wir das für den richtigen Weg."
Fotostrecke: Formel 1 2024: Der Red Bull RB20 von Max Verstappen
Natürlich fallen hier vorgestellten RB20 zunächst die Farben ins Auge: Im Jubiläumsjahr 2024 sind es die gleichen wie zuletzt in der Saison 2023. Das Farbdesign ist nur minimal angepasst worden. Anders ... Fotostrecke
Verstappen ist von seinem neuen Arbeitsgerät jedenfalls begeistert: "Sie haben mir in Abu Dhabi, beim letzten Rennen, zum ersten Mal die Zeichnungen gezeigt. Meine erste Reaktion war: 'Wow, das sieht ganz schön anders aus!' Sie waren nicht konservativ, nennen wir es mal so."
"Und das gefällt mir an diesem Team: Wir hatten ein super Paket, aber sie hatten trotzdem den Mut, Dinge anders zu machen und so besser zu werden. Ob das klappt, werden wir erst sehen. Aber soweit ich sehe, sind alle im Team ziemlich glücklich darüber, was ihnen im Winter gelungen ist. Was wir nicht kontrollieren können, ist, was die anderen Teams gemacht haben."
Was am RB20 anders ist als am RB19
Verstappen fasst den Designansatz, der hinter dem RB20 steckt, als "kontrollierte Aggressivität" zusammen. Vor allem in einigen Schwerpunktbereichen wie den langsamen Kurven. "In 90-Grad-Kurven waren wir 2023 nicht gut", sagt Pierre Waché, Red Bulls Technischer Direktor. "Dann das Fahren über die Randsteine. Das sind Schwächen, die wir ausmerzen wollten, ohne die Stärken zu riskieren."
Horner nickt: "Es stecken einige tolle Innovationen im Auto. Ich bin mir fast sicher, dass die in den nächsten Wochen ganz genau unter die Lupe genommen werden! Die Kreativität im Team ist sehr hoch, und das sieht man an einigen der Lösungen, die das Team entwickelt hat. Es ist keine konservative Evolution, sondern wir haben einige tolle Innovationen am Auto."
Verblüffende Ähnlichkeiten mit Mercedes-Ideen
Einige davon kann man sogar am Launchmodell, das am ersten Testtag in Bahrain vermutlich schon wieder anders aussehen wird, mit freiem Auge erkennen. Zum Beispiel die langen Kühlkanäle, die vom Halo über die gesamte Länge der Motorabdeckung nach hinten verlaufen und die stark an den Mercedes W14 aus der Saison 2023 erinnern.
Der RB20 scheint auch einen (auf den Fotos gut getarnten) vertikalen Seitenkasten-Kühlereinlass zu haben, der sich im Vergleich zum RB19 unter noch stärker unterschnittenen Seitenkästen befindet. Ein Feature, das übrigens zum ersten Mal bei Mercedes' erstem "Zero-Pod"-Auto, dem W13, zu sehen war. Frontflügel und Nase des RB20 erinnern hingegen stark an Red Bulls eigenes 2023er-Modell.
Der beim Launch gezeigte Unterboden ist deutlich größer und einfacher gehalten als die komplexen Venturi-Bodenplatten, die für die aktuellen "Ground-Effect"-Regeln der Formel 1 eigentlich erforderlich sind. Gut möglich allerdings, dass das ein Trick ist, um die wichtigste aerodynamische Komponente des Autos so lang wie möglich geheim zu halten, bevor am 21. Februar der Bahrain-Test beginnt.
Die bei der Präsentation unter Medienvertretern heiß diskutierten Mercedes-ähnlichen Elemente unter den Seitenkästen des RB20 könnten indes ein Versuch sein, Verwirrung zu stiften. Ähnlich wie vor einem Jahr bei Alfa Romeo, als das Schweizer Team bei der Präsentation des 2023er-Autos zunächst Fotos mit einer Fake-Unterbodenversiegelung veröffentlichte.
Sergio Pérez hat jedoch keine Angst, dass der mutige Schritt von Red Bull, sich nicht verbissen ans Erfolgsdesign von 2023 zu klammern, nach hinten losgehen könnte: "Wir hatten so ein dominantes Auto. Da hätte man nicht gedacht, dass sie das Konzept so auf den Kopf stellen. Das zeigt, wie hungrig das Team ist. Und wie mutig!"
Helmut Marko: Abwarten und Tee trinken ...
Wie gut der RB20 dann wirklich ist, "wird sich nächste Woche bei den Tests in Bahrain zeigen", sagt Motorsportkonsulent Helmut Marko im Interview mit oe24. "Was man jetzt schon sagen kann, ist, dass das neue Auto eine Evolution vom Vorjahrsauto ist, und da hatten wir das beste Paket. Wenn wir die wenigen Schwachstellen ausmerzen, sollte eigentlich nicht viel schiefgehen."
Nur in einem Punkt sind sich selbst die größten Optimisten innerhalb des Red-Bull-Teams einig: Die Rekordsaison von 2023 zu übertreffen, das wird schwierig. Aber: "Das ist auch gar nicht unser Ziel", winkt Verstappen ab. "Das Ziel ist, ein weiteres sehr konkurrenzfähiges Auto abzuliefern, und ich von meiner Seite versuche dann, mein Bestes zu geben."
Aber dafür, dass es am Ende reicht zum vierten Fahrertitel hintereinander, "müssen viele unterschiedliche Dinge zusammenpassen", warnt der 26-Jährige. Der übrigens, das nur am Rande, mit einer vierten Weltmeisterschaft auf Red Bull mit Sebastian Vettel (2010 bis 2013) gleichziehen würde.
Horner: Unsere Gegner sind nach 2023 sicher voll motiviert
Red Bull ist 2024 der große Gejagte. Die Konstrukteurs-WM 2023 entschied das Team mit 860 Punkten für sich - mehr als Mercedes und Ferrari zusammen. "Wenn du das erreicht hast, was wir erreicht haben", sagt Horner, "dann ist klar, dass du eine Zielscheibe auf dem Rücken hast, die alle treffen wollen. So ist das im Sport: Die effektivste Art und Weise, deine Gegner motivieren, ist, sie zu schlagen."
"Darum waren wir bei diesem Auto nicht konservativ. Es sind tolle Innovationen dran. Es ist eine aggressive Evolution des erfolgreichsten Autos, das die Formel 1 je gesehen hat. Die Ingenieure haben einen unglaublichen Job gemacht. Ob das gut genug ist oder nicht, wird die Stoppuhr zeigen. Nächste Woche, beim Testen in Bahrain, und die zehn Monate danach", sagt Horner.