• 02. April 2023 · 04:47 Uhr

Toto Wolff: "Sehe keine Arroganz bei unseren Ingenieuren"

Nach dem Qualifying in Melbourne warnt Toto Wolff davor, zu glauben, dass der aerodynamische Konzeptwechsel beim W14 doch nicht notwendig sein könnte

(Motorsport-Total.com) - Die Formkurve bei Mercedes zeigt nach oben: Nach den Startpositionen 6/7 beim Saisonauftakt in Bahrain und 3/7 in Saudi-Arabien starten George Russell und Lewis Hamilton beim Grand Prix von Australien in Melbourne als Zweiter und Dritter ins Rennen. Und Russell beginnt sogar schon wieder, von Siegen aus eigener Kraft zu träumen.

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Toto Wolff warnt davor, zu schnell zwischen den Emotionen hin und her zu pendeln Zoom Download

Teamchef Toto Wolff hatte bereits in Dschidda davor gewarnt, die Hoffnung auf den WM-Titel 2023 zu früh aufzugeben: "Im Motorsport ist alles möglich. Eine Saison so früh abzuschreiben, ist sicher falsch, aber im Moment ist der Rückstand gewaltig. Wenn wir es nicht schaffen, den Rückstand in den nächsten vier, fünf Rennen zu reduzieren, dann ist der WM-Zug abgefahren."

Russell hat nach dem Qualifying in Melbourne sogar seine Prognose, Red Bull werde alle 23 Rennen gewinnen, zurückgezogen. Doch der starke Samstag im Albert Park, auch das ist den Ingenieuren bei Mercedes voll bewusst, spiegelt keineswegs eine grundlegend veränderte Rangordnung wider. Denn die großen Updates sind noch nicht am Auto, sondern erst im Windkanal.

"Ich könnte jetzt cool tun und sagen, dass wir das erwartet haben. Aber so war es nicht", sagt Wolff nach dem überraschend positiven Qualifying in Australien. "Wir sind noch nicht da, wo wir sein wollen. Wir wollen ganz nach vorn. Aber P2/3 ist sicher mehr, als wir vor diesem Wochenende erwartet hatten."

"Dem Team ist es hervorragend gelungen, das Maximum aus dem Auto rauszuholen. Ich denke, wir haben die Reifen hervorragend gemeistert, und die Fahrer haben geliefert. Man sieht in den Onboards, dass das Auto immer noch kritisch zu fahren ist. Der Aston Martin und der Red Bull liegen viel besser. Wir fahren auf der Rasierklinge, aber das haben die beiden diesmal gut hinbekommen."

Wolff warnt: Brasilien 2022 darf sich nicht wiederholen

Wolff warnt davor, nochmal in den gleichen Fehler zu laufen wie Ende 2022, als Russell in Brasilien gewonnen hat, und den geplanten Konzeptwechsel erneut abzusagen: "Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht zwischen Euphorie und Depression hin und her springen. Sondern wir müssen rational bleiben."

"Was wir heute gesehen haben, ist, dass viel Potenzial in diesem Auto steckt. Das ist offensichtlich. Aber wir müssen langfristig die richtigen Entscheidungen treffen. Wir werden jetzt erstmal mit dem bestmöglichen Paket Rennen fahren, das wir halt hinbekommen. Ob das eng anliegende Seitenkästen hat oder nicht, ist irrelevant. Wir brauchen einfach mehr Downforce."

Die Erkenntnis, dass das aktuelle Aerokonzept mit den eng anliegenden "Zero-Pods" eine Sackgasse ist, war bei Mercedes eigentlich schon im Sommer 2022 gereift. Doch dann kam der Sieg in Brasilien, und offenbar gab es im Team von Technikchef Mike Elliott Strömungen, die der Meinung waren, das Konzept sei theoretisch gut und man solle lieber daran festhalten.

"Wir haben alles versucht, es zum Funktionieren zu kriegen, weil die Daten, die wir abgeleitet haben, zeigen, dass es funktionieren müsste. Inzwischen wurde uns aber vorgeführt, dass das falsch war", räumt Wolff ein. "Die zwei schnellsten Autos generieren Downforce auf ähnliche Art und Weise, aber sie sehen ganz anders aus als unseres. Irgendwann haben wir realisiert, dass wir daneben liegen."


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Man habe sich von den Daten aus dem Windkanal und CFD-Simulationen in die Irre führen lassen. Das sei aber eine Teamentscheidung gewesen und kein Alleingang von Elliott, wie mancherorts spekuliert wurde: "Wir waren uns alle einig, dass wir so weitermachen. [...] Aber jetzt können wir es uns nicht mehr leisten, noch mehr Zeit zu verlieren."

Hamilton ahnte es schon vor den Ingenieuren

Einer der Ersten, die gewittert haben, dass das Aerokonzept zwar in der Theorie gute Daten ausspucken mag, aber in der Praxis nicht funktioniert, war Lewis Hamilton. Der brachte das auch zum Ausdruck, als er nach den Wintertests in Bahrain meinte, das Team habe ihm Ende 2022 nicht genug zugehört.

"Lewis hatte da eine andere Perspektive", bestätigt Wolff. "Aber letztendlich haben wir alle gemeinsam entschieden, bei diesem Konzept zu bleiben. Ermutigt von den guten Ergebnissen am Jahresende. Lewis hat von Anfang an gesagt, dass er sich in diesem Auto nicht wohlfühlt."

"Jetzt müssen wir unsere ganze Philosophie ändern, wie wir uns Daten anschauen, wie wir die Daten analysieren. Da müssen wir uns neu erfinden", fordert Wolff von seinen Ingenieuren. "Denn wenn wir auf die Rundenzeiten schauen, dann haben wir immer noch ganz schön viel Luft nach oben."

Jetzt noch einmal dem Impuls nachzugeben, wegen eines guten Ergebnisses im Qualifying in Melbourne auf die alten Daten zu vertrauen und dem aktuellen Konzept eine weitere Chance zu geben, "ist genau das, was wir jetzt vermeiden müssen", stellt Wolff klar.

"Im Überschwang der Gefühle könnte man verleitet sein, doch wieder in Frage zu stellen, ob der Konzeptwechsel richtig ist und stattdessen dieses Auto weiterzuentwickeln. Beim nächsten schlechten Ergebnis sehen wir es dann aber wieder anders."

"Wir hatten nie ein besonderes Dogma, wie unser Auto aussehen sollte. Wir realisieren, dass wir falsch liegen. Wir wissen auch, dass es einige gute Dinge an diesem Konzept gibt - besonders dann, wenn es uns gelingt, das Paket an einem Rennwochenende absolut perfekt abzustimmen. Dann holen wir nämlich raus, was theoretisch in diesem Auto steckt."

Nach Jahren des Erfolgs: Zu lang blind vertraut?

Was die Frage aufwirft: Hat das Teammanagement der Einschätzung der Ingenieure zu lang vertraut und zu lang nicht auf Hamiltons Instinkt gehört? Verwöhnt von Jahren des Erfolgs, in denen es nie Anlass gab, dem Technikteam misstrauen?

"Manchmal liegt man halt falsch", winkt Wolff ab. "Ob man unbewusst von sowas beeinflusst ist oder nicht? Ich denke, das ist einfach eine menschliche Reaktion. Und es ist jetzt an uns, das ganz offen zu diskutieren: Ist uns dieser Fehler passiert?" Und er stellt klar: "Ich sehe keine Arroganz bei unseren Ingenieuren."

Wann genau die ersten Updates kommen werden, steht noch nicht fest. Wie diese aussehen werden, zeichnet sich aber schon ab. Seitenkästen und Unterboden ("eine enorme aerodynamische Fläche") werden auf jeden Fall umgebaut. Laut Wolff sind "alle aerodynamischen Oberflächen" betroffen, "von der Nase bis zum Diffusor und zum 'Beam-Wing'".

Wolff rechnet nicht mit einer Wende über Nacht

Dass die Updates gleich bei den ersten Renneinsätzen voll einschlagen werden, wagt er jedoch nicht zu hoffen: "Ich denke, wir müssen mit sechs bis zwölf Monaten rechnen. Denn solange haben wir gebraucht, um wirklich zu kapieren, was mit diesem Auto passiert. Das bedeutet, dass wir jetzt unsere Entwicklungsgeschwindigkeit verdoppeln müssen."

Bis die Updates da sind, ist das Ziel, den W14 in seiner derzeitigen Spezifikation zu maximieren - so, wie das im Qualifying in Melbourne gut gelungen ist. Denn auch wenn es noch nicht zu Siegen aus eigener Kraft reicht: Im besten Fall könnten die jetzt gesammelten Punkte am Jahresende noch wichtig werden.

In Sachen Set-up versteht Mercedes das Konzept inzwischen viel besser als noch 2022: "Letztes Jahr haben wir das Auto so entwickelt, dass wir es zu niedrig einstellen mussten. Dieses Jahr müssen wir es wahrscheinlich etwas zu hoch einstellen. Aber zumindest können wir all diese Entscheidungen jetzt nachverfolgen und verstehen."

"So, wie das Auto jetzt ist, gelingt es dem Team viel besser, den optimalen Punkt zu finden. Die Aerodynamik hat in den vergangenen Wochen fantastische Arbeit geleistet, um da Performance hinzuzufügen, wo sie uns gefehlt hat. Das kommt jetzt alles zusammen. Und dann geht es darum, mit unserem Wissen am Rennwochenende das Maximum aus dem Auto herauszuholen."

Russell: Verstehen den W14 immer besser

Das gelingt manchmal besser, manchmal schlechter. Aber ganz selten ist der W14 eine zickende Diva, wie das der W13 mit seinem eklatanten Hang zum "Bouncing" war. "Wir verstehen dieses Auto immer besser", sagt George Russell. "Uns ist mit dem exakt gleichen Auto seit Dschidda eine Verbesserung gelungen. Das muss also am Set-up liegen."

"Das Auto fühlt sich eigentlich ganz gut an. Es ist wahrscheinlich das beste Formel-1-Auto, mit dem ich je Rennen gefahren bin - von meinem Ersatzstart bei Mercedes 2020 mal abgesehen", sagt Russell. "Aber es fehlt uns einfach an Downforce. Da haben wir in den vergangenen zwei, drei Wochen im Windkanal riesige Fortschritte gemacht. Hoffentlich kommen die bald ans Auto."

"Das Ergebnis heute stärkt aber auf jeden Fall unser Selbstvertrauen - ganz egal, was das Rennen bringt. In den nächsten vier Wochen müssen wir aus einem Auto, dem es zweifellos an Performance fehlt, das Beste herausholen. Dann sind wir gut aufgestellt für das Rennen, bei dem wir dann das Update bringen", erklärt er.

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