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Wie die Entführung eines Formel-1-Stars Fidel Castro an die Macht verhalf
Die 29-stündige Entführung Juan Manuel Fangios durch kubanische Revolutionäre ebnete 1958 den Weg des Landes in den Sozialismus: "Sie haben mich gut behandelt"
(Motorsport-Total.com) - Seit es den Motorsport gibt, erfüllt er zwei Funktionen: Er ist ein Freizeitvergnügen für die Aktiven und Millionen Fans weltweit und dazu ein Geschäft für Menschen, die mit Rennautos Marketing betreiben oder mit den Preis- und Sponsorengeldern ihren Lebensunterhalt finanzieren. Auch die sogenannte "Königsklasse" Formel 1 schaffte es in den 66 Jahren ihres Bestehens nicht, am Rad der Weltgeschichte zu drehen. Wären da nicht Juan Manuel Fangio, Fidel Castro und der 23. Februar 1958 gewesen.
Rückblende: Fangio weilt an diesem Tag in Havanna, um am Grand Prix in der kubanischen Hauptstadt teilzunehmen und seinen Titel zu verteidigen. Das Rennen zählt nicht zur Weltmeisterschaft, es nehmen jedoch viele bekannte Piloten teil - auch, weil der von den USA unterstützte Diktator Fulgencio Batista tief in die Tasche greift, um seinem Militärregime, der dekadenten Oberschicht des gespaltenen Landes und Touristen ein Spektakel zu bieten.
Die Veranstaltung gilt als Monaco-Grand-Prix der Karibik, doch nur wenige Kilometer weiter landeinwärts tobt ein ganz anderer Kampf als der um den Sieg bei einem Autorennen. Es geht um die Zukunft Kubas, die eine Rebellengruppe um den charismatischen Rechtsanwalt Fidel Castro und den argentinischen Arzt Ernesto "Che" Guevara in die eigene Hand nehmen will. Sie haben sich in Anlehnung an einen früheren Putschversuch zur "Bewegung des 26. Juli" zusammengeschlossen. Ihre Ziele: Batista stürzen, die Unterdrückung beenden, Unternehmen verstaatlichen und die verarmte Landbevölkerung am Wohlstand beteiligen.
Batista plant Brot und Spiele, die Rennsport-Helden kommen
Allerdings steckt die Revolution fest: Nach der Landung mit bewaffneten Exil-Kubanern 14 Monate zuvor haben Castro und seine Mitstreiter Verluste zu beklagen. Sie müssen sich in die Sierra Maestra, einen Gebirgszug im Osten der Insel, zurückziehen. Waffen und Medikamente lassen sich schmuggeln, im Guerillakampf gegen die Armee und ihre omnipräsente Geheimpolizei gelingen immer mehr Erfolge. Doch wegen des Daseins im Untergrund fehlt die Unterstützung der breiten Masse.
Insbesondere in den Städten gelingt es dem Batista-Regime, die Existenz der Rebellen zu leugnen und zu verhindern, dass die Bewegung wächst. Auch der ausländischen Presse versichert der Machthaber immer wieder mehr oder weniger glaubhaft, es gäbe keine Versuche, ihn zu stürzen, weshalb ihm die USA als vermeintliche Bastion gegen den Sozialismus nicht den Geldhahn zudrehen. Was Castro und Co. dringend brauchen, ist ein Beweis für ihre Existenz und ihre Stärke. Ein Propaganda-Manöver.
Der Rest ist ein ausgeklügelter Plan: Der 46-jährige Argentinier Fangio, ein Superstar in der lateinamerikanischen Welt, plant sein Karriereende und wird auf Kuba als fünfmaliger Weltmeister von den "kleinen" Leuten gefeiert. Er macht keinen Schritt unbeobachtet und befindet sich auch am Abend des 26. Februar 1958 in einer dichten Menschenmenge, als er die Lobby des noblen Hotels Lincoln im Herzen Havannas betritt. Kurz zuvor hat er auf dem Stadtkurs unter Beachtung der Weltpresse wieder Bestzeiten gesetzt.
Lockvogel mimt einen betrunkenen Fan
Castro und "Che" Guevara haben bereits im Vorfeld des mit 10.000 US-Dollar dotierten Rennens (für einen Kubaner in den Fünfzigerjahren genug für mehrere Leben) damit gedroht, den Grand Prix zu torpedieren. Batista schließt - mit einiger Arroganz - eine Absage aus und will Brot und Spiele durchziehen. Er verschärft jedoch die Maßnahmen der Geheimpolizei und setzt 1.500 Soldaten ein, um das Event zu sichern. Allerdings rechnen er und seine Gefolgsleute nicht damit, dass es den Rebellen mit einer Aktion nicht um fahrende Autos, sondern um einen bestimmten Piloten gehen könnte.
So wundert sich Fangio nicht, als in der Hotellobby plötzlich ein Mann auftaucht, der "Viva Fangio!" ("Es lebe Fangio!") brüllt. Es handelt sich um eine heimliche Identifizierung, schließlich sind sich die Rebellen nicht sicher, ob sie den Rennfahrer erkennen, wenn sie ihm gegenüberstehen. Als klar ist, um wen es sich handelt, schlägt sich der offenbar Betrunkene durch die Menge und drückt Fangio gegenüber seine Bewunderung aus. Der Formel-1-Held bleibt cool und will seinen Verehrer abwimmeln.
Zeitgenössischer TV-Bericht zu Grand Prix und Entführung
Dann geht alles ganz schnell: Wenige Sekunden später stehen zwei Männer in Lederjacken links und rechts neben Fangio. Sie sind bewaffnet, aber unmaskiert. Umstehende Freunde Fangios sehen dem Treiben genau wie völlig verdutzte andere Hotelgäste tatenlos zu. "Mitkommen", sagen die Entführer kurz und knapp. Fangio wird genötigt, die Castro-Anhänger zu begleiten und leistet keinen Widerstand. Vor dem Hotel besteigen sie einen Geländewagen und brausen in die Dunkelheit.
Geiselnahme deluxe: Sie trieben sogar einen Fernseher auf
Die Polizei errichtet Straßensperren und lässt Flughäfen des Landes sperren. Alle ausländischen Piloten, die am Grand Prix teilnehmen, erhalten Leibwachen. Doch von Fangio fehlt jede Spur, bis in Zeitungsredaktionen und internationalen Nachrichtenagenturen die Telefone klingeln. Die Ansage ist immer gleich: "Hier spricht der 26. Juli. Wir haben Juan Manuel Fangio um 20:55 Uhr entführt." Der erste Schritt hin zum Beweis der eigenen Existenz ist für Castro getan, doch das ist nicht alles.
Fangio wird von seinen Kidnappern an bis heute unbekannte Orte verschleppt und in den folgenden 24 Stunden in drei verschiedenen Häusern gefangen gehalten. Die Polizei ist meilenweit davon entfernt, den Star zu befreien und sieht dem Treiben tatenlos zu. Sollte es ein weiteres Ziel der Rebellen gewesen sein, auch für eine Absage des Kuba-Grand-Prix zu sorgen (wie einige Quellen berichten), dann sind sie in dieser Hinsicht gescheitert: Batista hält eisern an der Veranstaltung fest und lässt am Tag darauf wie geplant starten.
Entführung als Wendepunkt der Revolutionsgeschichte
Die Geiselnehmer lassen ihn Radio hören und bemühen sich sogar um einen Fernseher, als sie erfahren, dass es bei dem Rennen einen schweren Unfall mit sechs Toten und 42 Verletzten gegeben hat, weil ein Auto in die Zuschauer gerast ist. Zu dieser Zeit auf Kuba alles andere als selbstverständlich und sogar ein Risiko für die Entführung. Mit den Revolutionären an seiner Seite, zu denen weder Castro noch "Che" Guevara zählen, führt Fangio intensive Gespräche. "Ich habe ihnen erklärt, dass ich mich nicht für Politik interessieren würde. Ich sei nur Rennfahrer", berichtet er später. Trotzdem informiert er sich über die Ziele der Bewegung des 26. Juli.
29 Stunden nach der Gefangennahme ist der Spuk vorbei. Fangio wird am 24. Februar 1958, kurz nach dem Grand Prix, freigelassen. Ob er sich ein gutes Verhältnis zu seinen Entführern bewahrt hat, wie immer gemunkelt wird, ist nicht abschließend überliefert. Doch für Castro und Co. ist die Sache ein Erfolg: Die weltweite Aufmerksamkeit macht es Batista unmöglich, die Existenz der Rebellen weiter zu leugnen. Dazu wird die Hilflosigkeit der Polizei zum Propaganda-Bumerang und überzeugt viele Kubaner, dass das Militärregime nicht so mächtig ist, wie es sich verkauft.
Der Rest ist Weltgeschichte: Am 29. Dezember 1958 rücken die Revolutionäre, die mittlerweile eine Armee unterhalten und Batistas Truppen vernichtend schlagen, in der Stadt Santa Clara ein und marschieren auf Havanna zu. Der Diktator begeht den Silvesterabend in altbekannter Dekadenz und lässt den Champagner fließen, um sich in den frühen Stunden des Neujahrsmorgens sämtliche Bargeld-Reserven unter den Nagel zu reißen, auf einem Schiff das Exil in der Dominikanischen Republik anzusteuern und Kuba Fidel Castro zu überlassen.