• 13. September 2016 · 08:03 Uhr

2008: Ein Singapur-Grand-Prix für die Ewigkeit

Aus einer umjubelten Flutlicht-Premiere und einem Chaos-Rennen wird einer der größten Skandale der Geschichte: "Crashgate" beschäftigt die Szene fast zwei Jahre

(Motorsport-Total.com) - Viele Formel-1-Fans glaubten es erst, als sie es mit eigenen Augen sahen: Im Jahre 2008 bestritt die Königsklasse in Singapur beim 800. Grand Prix der Geschichte ihr erstes Nachtrennen vor atemberaubender Kulisse. Fernando Alonso, damals in Diensten Renaults, krönte sich auf dem Marina Bay Circuit zum König der Nacht. Doch nach der Zielflagge war mit Staunen nicht Schluss. Die "Crashgate"-Affäre um Flavio Briatore und Nelson Piquet jun. schrieb Geschichte - Monate nach dem Rennen.

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Ein Unfall, der keiner war: "Crashgate" gilt als einer der größten Skandale Zoom Download

Doch der Reihe nach: Am 26. September 2008 fährt erstmals ein Formel-1-Auto innerhalb einer offiziellen Session bei Flutlicht auf die Strecke. 1600 Scheinwerfer, aufgestellt in einem Vier-Meter-Intervall und zehn Meter über der Fahrbahn montiert, machen es möglich. Auf der Bahn ist es viermal so hell wie in einem Fußballstadion, was über 100 Kilometer Kabel und eine energetische Gesamtleistung von drei Megawatt sicherstellen. Die Fahrer stellen überrascht fest: Es fährt sich wie am Tag.

Allerdings arbeitet es sich ganz anders. Durch die verschobenen Startzeiten der Sessions werden die Formel-1-Piloten zu Nachtschwärmern und müssen sich darauf einstellen, bei Tageslicht Schlaf zu finden. Auf der anspruchsvollen Bahn im Stadtstaat ist bei Tropenklima und Dauerbelastung im Kurvendschungel jedes Körnchen Kraft notwendig. Viele Piloten haben mit der Schlusskurve Probleme oder sorgen für Kleinholz, weil Bodenwellen und tückische Randsteine den Kurs zur Herausforderung machen.

Magnetfeld der Straßenbahn sorgt für Kapriolen

Was auf den ersten Blick typisch für eine neue Bahn erscheint, wird zwei Tage später noch eine wichtige Rolle spielen. Weil Abflüge und Fahrfehler scheinbar an der Tagesordnung sind, schöpft kaum ein Experte in der Causa Piquet jun. Verdacht. Auch die Boxeneinfahrt, die zum Abbremsen auf der eigentlichen Strecke zwingt, sorgt für Diskussionen. Im Qualifying gibt es beinahe einen Unfall zwischen Rubens Barichello und Nick Heidfeld an dieser Stelle, was einen Umbau für das Folgejahr nach sich zieht.


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Weiteres Kuriosum: Einige Autos haben Elektronikprobleme zu verzeichnen, weil unter der in den Kurs integrierten Brücke Starkstromleitungen für die Straßenbahn verlaufen. Das bewirkt einen Magnetismus, der die sensiblen Systeme durcheinanderbringt. Red Bull führt später sogar den Ausfall Mark Webbers im Rennen auf eine vorbeifahrende Straßenbahn zurück. Die Theorie: Das Getriebe aktivierte zwei Gänge gleichzeitig, weil das Magnetfeld bei der Passage des Zuges besonders stark war.

Bereits vor dem Qualifying hatte der zu diesem Zeitpunkt von den massiven Renault-Problemen geplagte Alonso angedeutet, dass ihm in Singapur ein Befreiungsschlag gelingen könnte. Doch in Q2 ist Schluss, weil den Spanier ein Benzindruck-Problem vor dem Setzen einer Zeit stoppt. Felipe Massa nutzt die Gunst der Stunde und sichert sich den ersten Startplatz mit einer Fabelzeit. Der Ferrari-Pilot ist 0,664 Sekunden schneller als Lewis Hamilton und nimmt seinem Teamkollegen Kimi Räikkönen noch mehr Zeit ab.

Mehr TV-Zuschauer als bei der Olympia-Eröffnung

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Massa (rechts) muss am Ende der Boxengasse vom Schlauch befreit werden Zoom Download

Der Rennstart am Sonntag wird zum Medienereignis. Streckenweise sind mehr Zuschauer vor den Fernsehern als bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking einen Monat zuvor. Analysen der Einschaltquoten zeigen, dass weltweit rund 400 Millionen Menschen die Flutlicht-Premiere verfolgen. Schon in der Einführungsrunde muss ihnen Piquet jun. auffallen, schließlich fabriziert der Brasilianer in der Schlusskurve beim Aufwärmen der Reifen einen Dreher und vermeidet nur knapp einen Einschlag, um sich doch auf seiner Position einzufinden.

Nach einem erstaunlich wenig turbulenten Start kommt der im Mittelfeld versumpfte Alonso in Runde zehn als erster Pilot an die Box und holt sich die weichere Reifenmischung ab. Zwei Umläufe später verliert Piquet in Kurve 17 scheinbar die Kontrolle über sein Auto, schlägt heftig in die Mauer ein und steht so unglücklich auf der trümmerübersäten Fahrbahn, dass die Bergung durch das Safety-Car abgesichert werden muss. Alles sieht nach einem glücklichen Zufall aus: Alonso wird nach vorne gespült, weil viele andere während der Gelbphase an die Box kommen müssen, um aufzutanken.

Bei Massa geht alles schief, schließlich lässt Ferrari den Brasilianer losfahren, als der Tankschlauch noch am Auto klemmt. Zu allem Überfluss kollidiert er auch noch fast mit Adrian Sutil, der im letzten Moment ausweicht. Am Ende der Boxengasse schaffen es die herbeigeeilten Mechaniker, den Boliden von dem Mitbringsel zu befreien, das Rennen ist jedoch gelaufen. Die Führung übernimmt Williams-Pilot Nico Rosberg, der auf einen Boxenstopp zunächst verzichtet und bei Wiederfreigabe mit schnellen Runden eine Lücke zum Feld reißt.

Auf "unglaublich gut" folgt "unfassbar dämlich"

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Fernando Alonsos Sieg wird noch deutlich weniger ruhmreich ausfallen Zoom Download

Doch auf den Wiesbadener kommt Unheil zu: Er mit einer Stop-and-Go-Strafe belegt, weil er aufgetankt hatte, als die Boxengasse während einer weiteren Safety-Car-Phase geschlossen war. Mit fast leerem Tank war es jedoch die einzige Alternative zum Liegenbleiben. Erst später wird klar, dass der erste Formel-1-Sieg Rosbergs zum Greifen nahe gewesen wäre. Immerhin belohnt er sich mit Rang zwei und dem Premieren-Podium seiner Karriere. In einem Finale voller weiterer Zwischenfälle meistert Alonso das Chaos in gewohnt souveräner Manier.

Dritter wird Hamilton. Timo Glock, Sebastian Vettel und Nick Heidfeld sorgen dafür, dass vier Deutsche unter die Top 6 fahren. Die Reaktionen auf die spektakuläre Nachtpremiere fallen durchweg positiv aus. Zampano Bernie Ecclestone glaubt, dass das Rennen "den Leuten die Augen geöffnet" habe. McLaren-Patron Ron Dennis sieht einen "historischen Schritt" für den Motorsport. Hamilton erklärt Singapur für "beeindruckend". Ein Jahr später wird Geschichte umgeschrieben. Piquet fliegt nach dem Ungarn-Grand-Prix 2009 wegen chronischer Erfolgslosigkeit bei Renault raus. Kurz darauf berichten brasilianische Medien das Unfassbare.

Verschwörung in "Herrn Briatores Büro"

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Piquet macht ein Jahr später bei der FIA reinen Tisch - die Karriere ist zerstört Zoom Download

Der Weltmeistersohn soll sein Auto in Singapur absichtlich in die Mauer geknallt haben, um die Safety-Car-Phase auszulösen und Alonso den Weg zum Sieg zu ebnen. Die FIA hatte kurz zuvor eine Untersuchung eingeleitet, ohne deren Gegenstand öffentlich zu machen - offenbar infolge eines Briefs Piquets nach seinem letzten Rennen, in dem er reinen Tisch macht. Gegenüber dem Automobil-Weltverband räumt Piquet die Scharade in einem vertraulichen Dokument, das öffentlich wird, erneut ein.

In Piquets Wortlaut heißt es: "Der Vorschlag, absichtlich einen Unfall herbeizuführen, wurde mir kurz vor Beginn des Rennens unterbreitet, als ich von Herrn Briatore und Herrn Symonds in Herrn Briatores Büro bestellt wurde." Klare Anschuldigungen gegen den damaligen Teamchef sowie den Chefingenieur, ihn zu der Sache angestiftet zu haben. Alonso streitet jegliche Kenntnis ab. Symonds spielt eine wechselhafte Rolle, indem er erst die Aussage gegenüber den FIA-Ermittlern verweigert, um "nicht zu lügen", anschließend aber Piquet die Initiative in die Schuhe schiebt.

Piquet jun. als wahrer Verlierer

Piquet wird von FIA-Präsident Max Mosley persönlich Straffreiheit zugesichert, wenn er umfassend aussagt. Symonds soll zuvor ein ähnliches Angebot erhalten haben. In Paris kommt es ein Jahr nach dem Skandal, der längst unter dem Namen "Crashgate" firmiert, zur Verhandlung vor dem Motorsport-Weltrat. Renault als Team wird für schuldig befunden, erhält aber nur eine Rennsperre auf Bewährung. Das Ergebnis bleibt bestehen und Alonso der Grand-Prix-Sieger. Die Verschwörer Briatore und Symonds trifft es in Abwesenheit härter.

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Die Verschwörer von Singapur: Flavio Briatore und Pat Symonds Zoom Download

Der Playboy wird durch ein juristisches Hintertürchen (eine entsprechende Sanktion gibt es gar nicht) lebenslang für alle FIA-Veranstaltungen gesperrt und darf keine Piloten mehr managen. Symonds erhält die gleiche Strafe, allerdings auf fünf Jahre begrenzt. Erst im April 2010 wird die Sache zu den Akten gelegt: Nachdem das Duo die Sperren vor einem französischen Zivilgericht angefochten hatte, hebt die FIA sie im Zuge einer Gütevereinbarung auf. Briatore und Symonds übernehmen bis 2013 keine operative Formel-1-Rolle, verzichten dafür aber auf Schadensersatz-Ansprüche.

Kein gutes Ende nimmt die Sache für Piquet. Renault geht zunächst zivilrechtlich gegen ihn und seinen Vater wegen einer angeblichen Verleumdung vor. Dazu sollen die beiden versucht haben, das Team mit dem Bekanntwerden des Skandals zu erpressen, um den Rausschmiss zu verhindern. Später verliert der mittlerweile reumütige Konzern den Prozess und zahlt eine Entschädigung. Piquets Karriere ist allerdings ein Scherbenhaufen und führt über die US-Szene und Le Mans in die Formel E, während Symonds bei Williams für Erfolge sorgt und der Name Briatore immer wieder durch das Paddock geistert.

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