• 25. Februar 2016 · 05:18 Uhr

Tee, Kaschmir und Askese: Der wirklich wahre Jean Todt

Freund und Rivale Ari Vatanen erinnert sich: Todt sei weder "Armeekommandant oder Entertainer" gewesen, aber ein stets geduldiger Philanthrop und Workaholic

(Motorsport-Total.com) - Es hätte ein so ruhiger, sonniger Samstagnachmittag beim Monaco-Grand-Prix 2006 sein können. Doch Jean Todts Handy stand nach dem Qualifying und dem in die Formel-1-Historie eingegangen "Rascasse-Skandal" nicht mehr still. Eines von zahllosen Piepen seines Telefons hatte der damalige Ferrari-Rennleiter Ari Vatanen zu verdanken. "Ich habe Jean damals eine SMS geschickt", erzählt die Rallye-Legende im Interview mit 'Motorsport-Total.com'. Text: "Du kannst dieses Verhalten nicht verteidigen!"

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Jean Todt (Mitte) und Ari Vatanen (rechts) bei den Dakar-Feierlichkeiten 1988 Zoom Download

Es ist nur eine kleine von vielen Episoden aus der Männerfreundschaft Todts und Vatanens, die nicht immer eine innige war. Ihre Lebensläufe sind seit über vier Jahrzehnten auf mannigfaltige Weise miteinander verwoben. Erst begegneten sich die beiden, die in Sachen Alter sieben Jahre trennen, als Konkurrenten auf der Rallyepiste. Sie trafen sich als Chef und Angestellter wieder, um anschließend als hart bandagierte Rivalen in der Sportpolitik um das höchste Amt auf Rennstrecken dieser Welt zu kämpfen. Heute - wenn auch nicht zwischendrin - sind sie gute Freunde.

Vatanen kennt Todt mit allen seinen Macken. Er bezeichnet ihn als "Workaholic", als "Arbeitstier" und als "Perfektionisten". Auch wenn es manchmal bei dem Versuch, alles makellos zu erledigen, bleiben würde, wie die eingangs geschilderte Episode demonstriert. "Niemand ist perfekt", sagt der Finne, der selbst in Rascasse stand, als Todts Lieblingsschüler Michael Schumacher seinen Ferrari in die Streckenbegrenzung setzte, um Fernando Alonso an der Pole-Position zu hindern. Ein dissonanter Moment in der Karriere eines Menschen, den Vatanen als aufrichtige Person darstellt.

Alles begann in Badehose an der Copacabana

Doch der Reihe nach: Erstmals von Todt hörte Vatanen im Jahr 1974, als der Franzose noch der begehrteste Co-Pilot der Rallye-Szene war und das Gebetbuch für Hannu Mikkola schrieb. Worte wechselten sie erst später miteinander: "Wirklich kennengelernt haben wir uns 1981 in Brasilien, als wir um den WM-Titel gekämpft haben und er mit Guy Frequelin unterwegs war", erinnert sich Vatanen an eine Begegnung nicht im Overall oder Schlips und Kragen, sondern in der Badehose.


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"Wir waren damals an der Copacabana", meint er lachend. Die Zeit, um zwischen den Läufen in Argentinien und Brasilien zurück nach Europa zu fliegen, war zu knapp. Also vertrieb sich der Zirkus am Zuckerhut die Zeit, als auf der Piste das Duell um die Krone pausierte. Ford-Star Vatanen als späterer Weltmeister und Todt als Frequelins Navigator bei Talbot hatten damals keine Intention, miteinander zusammenzuarbeiten: "Ich habe nie an ihn gedacht", denkt Vatanen zurück - obwohl sie sich gut verstanden und obwohl sich die Spitzenpiloten um den Franzosen rissen.

Auf die sanfte Tour: Todt war kein drakonischer Herrscher

Schon damals fungierte Todt als Sprachrohr für seine Kollegen und schrieb sich ein Thema auf die Fahne, das ihn bis heute begleiten sollte: "Er war wie ein Vertreter für uns - gerade, wenn es um die Sicherheit ging", meint Vatanen. Noch etwas war dem kleinen, gedrungenen und lockigen Mann aus der Auvergne schon damals zu eigen und gar nicht Rennfahrer-like: "Er hat immer ausschließlich Kaschmirwolle und Bundfaltenhosen getragen, wenn alle anderen im Overall steckten."

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Ari Vatanen und Jean Todt begegneten sich auf politischem Parkett wieder Zoom Download

Als Todt aus heiterem Himmel Peugeot-Sportchef wurde und damit Vatanens Vorgesetzter - erst in der Rallye-WM -, passte der Look besser zur Aufgabe. "Er ist nicht der Typ Armeekommandant oder ein Entertainer", beschreibt er die besonnene Herangehensweise Todts als Boss. "Er nimmt sich lieber Zeit. Wenn ein Fahrer einen Fehler beging, hat er immer gefragt: 'Was ist passiert?'"

Wutausbrüche und Tobsuchtsanfälle waren auch Fehlanzeige, als Vatanen seinen Titeltraum 1985 mit einem 180-km/h-Crash bei der Rallye Argentinien zerstörte, er sich dabei lebensgefährliche Verletzungen zuzog und er 18 Monate pausieren musste. Todt ging das Problem konstruktiv an: "Er hat sich damals sogar überlegt, ob es möglich wäre, ein Auto ohne Kupplungspedal zu bauen."

Tee als Lebenselexier, Rotwein als Teufelszeug

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Overalls waren noch nie sein Ding: Todt bevorzugte schon immer den feinen Zwirn Zoom Download

Solidarität mit seinen Piloten und deren Motivation sei immer ein Leitmotiv von Jean Todt gewesen, betont Vatanen. Es hätte ihm missfallen, mit Rauswurf zu drohen (auch wenn sich die Gerüchte über eine entsprechende Ansage an Rubens Barrichello zu Ferrari-Formel-1-Zeiten und bei dem Thema Stallorder halten). Stattdessen habe er auf seine Piloten eingewirkt und das Positive betont: "Wenn es in der ersten Saisonhälfte nicht lief, meinte er: 'Fahr besser, dann bekommst du einen neuen Vertrag!" Vatanen erhielt seinen Job immer, Auch als Todt die Rallye Paris-Dakar eroberte.

Er erinnert sich an die Tage in der Wüste Afrikas: "Da saß er vor seinem Zelt und jemand brachte ihm seinen Tee." Tee war jahrzehntelang Todts ständiger Begleiter, egal auf welchem Kontinent. Morgens, mittags, abends. "Heute trinkt er sogar Kaffee. Als ich das gesehen habe, konnte ich es kaum glauben", lacht Vatanen und bescheinigt Todt, ein Asket zu sein, wenn es um alkoholische Freuden des Lebens geht: "Leider versteht er immer noch nicht, was guter Rotwein ist..."

Auf Du-und-Du mit der weltpolitischen Elite

Die Dakar war für Todt ein Abenteuer. Nicht nur die Stallregie-Münzwurfentscheidung zwischen Vatanen und Teamkollege Ickx im Kampf um den Gesamtsieg 1989 ging in die Geschichte ein, auch das geklaute Auto im Jahr zuvor. Der gesamtführende Peugeot 406 T16 verschwand aus dem Parc ferme in Malis Hauptstadt Bamako. "Ich erinnere mich, wie wir im Van vor dem Hotel saßen, er ankam und sagte: 'Dein Auto ist nicht mehr im Parc ferme!' Man hatte ihn im Hotel angerufen und erklärt: 'Rücken Sie eine halbe Million Franc raus und sie bekommen den Wagen wieder.'" Der Wagen tauchte wieder auf, doch zu spät, um noch an der Rallye teilzunehmen.


Fotostrecke: Alle Rallye-Weltmeister seit 1979

Nach Peugeots Wechsel in die Le-Mans-Szene trennten sich die Wege Todts und Vatanens zunächst, ehe sie der Wahlkampf um das Amt des FIA-Präsidenten 2009 zu Konkurrenten machte - und nicht mehr zu Freunden. "Mehr von Jeans Seite" sei das Verhältnis abgekühlt. "Ich war derjenige, der einstecken musste", sagt der Europaparlamentarier Vatanen über eine Zeit, deren Kriegsbeil längst begraben ist: "Wir haben zwei Jahre später gemeinsam gegessen und haben über alles gesprochen." Seitdem gehört er wieder zu Todts Freundeskreis, der sich aus erlesenen Persönlichkeiten rekrutiert.

Beispiel: Zur Todts 60. Geburtstag organisierte sein Sohn Nicolas in einem Pariser Sternerestaurant eine elitäre Feier. Unter den Gästen war Formel-1-Chef Bernie Ecclestone, aber auch ein Mann, der einem aus dem Fernsehen bekannten französischen Ökonomen verblüffend ähnlich sah. Vatanen, ein Fan des Ökonomen, sprach diesen an - und schlug vor, man könne sich doch auch in Französisch statt Englisch unterhalten.

Was der Gesprächspartner achselzuckend ablehnte: Er spreche kein Französisch. Erst da realisierte Vatanen: Es handelte sich dabei um jenen US-Strategen, der als Architekt des dritten Irak-Kriegs im Stab des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld galt. Eine unterhaltsame Episode, die vor allem zeigt, in welch elitären Kreisen sich der heutige FIA-Präsident schon immer gern bewegt hat.

Übrigens: Dass Todt seit seiner Zeit bei Ferrari den Spitznamen "kleiner Napoleon" trägt, wundert Vatanen nicht. "Das liegt mehrheitlich an seiner Körpergröße", sagt er. "In den frühen 1980er-Jahren hat Jean selbst gesagt, dass er als kleiner Mensch eine Aura der Vorherrschaft um sich braucht. Deswegen empfinden ihn Fremde häufig als distanziert." Ari Vatanen nicht, seitdem er einen kleinen, gedrungenen und lockigen Rallye-Co-Piloten in Badehose an der Copacabana traf.

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