• 27. August 2018 · 07:46 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Nach fast 20 Jahren mal wieder Zuschauer: Chefredakteur Christian Nimmervoll über seine ungewohnte Zuschauerrolle in Hockenheim und Budapest

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,

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Formel 1 als Zuschauer: Macht zum Beispiel mit dem ORF großen Spaß ... Zoom Download

ich muss mich zunächst bei Ihnen entschuldigen: Weil sich auf meiner privaten Baustelle in Vorderweißenbach ein faustgroßes Stahlteil des Fassadengerüsts entschlossen hat, mir auf die rechte Hand zu fallen, musste ich mich bei den Grands Prix in Hockenheim und Budapest vertreten lassen. Meine Kollegen Markus Lüttgens und Dominik Sharaf haben das hervorragend gemacht.

Aber jetzt bin ich wieder da - "Oje!", wird der eine oder andere denken -, und bei der Analyse des gestrigen Rennens gibt es ein paar Kandidaten, die letzte Nacht schlecht geschlafen haben könnten.

Esteban Ocon ist so einer, denn obwohl er im Qualifying als Dritter eine sensationelle Leistung gezeigt hat und im Rennen als Sechster (hinter Teamkollege Sergio Perez) passabel unterwegs war, könnte Spa sein letzter Auftritt im Pink von Force India, pardon, Racing Point, gewesen sein. Lance Stroll kommt schon am Dienstag zur Sitzanpassung nach Silverstone. Und wenn der Sohn des neuen Chefs nicht in Monza im Cockpit sitzt, dann wahrscheinlich in Singapur.

Oder auch Stoffel Vandoorne, für den es erniedrigend gewesen sein muss, beim Heim-Grand-Prix zwar als Lokalmatador inszeniert zu werden. Doch während die Holländer mit reichlich Euphorie (und Alkohol im Blut) ihren Superstar Max Verstappen mit Sprechchören zu Platz drei peitschten, interessierte sich für den einzigen Belgier im Feld kein Mensch. Dann auch noch Letzter zu werden, drückt den Stachel ein bisschen tiefer. Seine Karriere steht auf der Kippe.

Wohnzimmer statt Büro

Aber weil ich den ganz klaren Verlierer (zu dem es idealerweise noch eine schöne Geschichte zu erzählen geben soll) diesmal nicht ausmachen kann, weiche ich dieses Format für mein "Comeback" ein wenig auf. Und erzähle stattdessen, wie es war, die Formel 1 zwei Wochen lang aus der Zuschauerperspektive zu verfolgen.

Das Erste, was mir zu Hause auffiel (bewaffnet mit meinem iPad, um die Rundenzeiten genauer studieren zu können, was mit dem TV-Signal alleine praktisch unmöglich ist), war, dass die Formel 1 am Freitag ein Riesenproblem hat. Weniger für die Zuschauer vor Ort, sondern vielmehr für jene wenigen Fans, die dazu bereit sind, schon an einem Freitag ihre Freizeit für ein Freies Training zu opfern, das sportlich keinerlei Bedeutung hat.

Die erste Dreiviertelstunde von FT2 ist aus Sicht von Otto Normalverbraucher noch einigermaßen nachvollziehbar, wenn Sebastian Vettel und Lewis Hamilton die Bestzeit jagen. Aber wenn es dann mit den Longruns losgeht und für das Rennen geübt wird, und die Zwischenzeiten plötzlich fünf, sechs Sekunden Rückstand anzeigen und sich im Klassement absolut nichts mehr tut, wird das aus der Zuschauerperspektive schnell ermüdend.

Jahrelang hatte ich nicht realisiert, wie unfassbar einschläfernd so ein FT2 ist. Als Journalist, der ich seit 1999 mit einer einzigen Unterbrechung (Ungarn 2000) über jeden Grand Prix live berichtet habe (entweder als Koordinator der Redaktion zu Hause oder vor Ort an der Rennstrecke), bin ich am Freitagnachmittag in der Regel damit beschäftigt, gleichzeitig live zu tickern, die Sessionanalyse zu schreiben, die vom Kollegen Heiko Stritzke erfassten Longrun-Zeiten zu beobachten, Fotos zu sortieren und den Rest meiner Redaktionskollegen zu führen.

In diesem Tunnelblick hatte ich völlig das Auge dafür verloren, dass das FT2 eine der schlechtesten Live-Übertragungen ist, die die Sportwelt zu bieten hat. Dabei wäre die Lösung so einfach!

Live-Longrun-Daten fehlen sehr

Wer gewillt ist, am Freitag schon Formel 1 zu schauen, ohne dass es um irgendetwas dabei geht, der ist per se schon mal ziemlich hardcore. Warum also nicht die Session in zwei Teile splitten, bei 45 Minuten die Zeitrechnung neu eröffnen und in den TV-Inserts nicht mehr die absoluten Bestzeiten einblenden, sondern eine Live-Tabelle mit den durchschnittlichen Longrun-Zeiten? Und weiteren Statistiken, die Portale wie wir im Nachhinein mühsam manuell auswerten, aber mit den Datensätzen der FOM problemlos live angezeigt werden könnten?

Sicher kein Angebot für eine ganz breite Masse, sicher nichts, womit man neue Zuschauer gewinnen kann. Aber etwas, womit man die alteingesessenen Fach-Fans glücklich machen würde.


Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in Belgien

Dann die Interviews mit den Top 3 direkt nach Qualifying und Rennen. David Coulthard und Paul di Resta haben den Job, die Spontanreaktionen der Sieger einzufangen, recht ordentlich erledigt. Das war schon oft anders. Etwa wenn Pseudo-Legenden auf die Aufgabe losgelassen wurden, in der Meinung, sie seien im jeweiligen Land recht populär.

Sorry, Jean Alesi oder Davide Valsecchi: Ihr könnt das einfach nicht! Permanent Martin Brundle für die Aufgabe zu nominieren oder Ted Kravitz, absolute Profis ihres Fachs, wäre für die Zuschauer zu Hause wesentlich interessanter. Denn die wollen nicht wissen, dass in Hockenheim (wie eigentlich überall) die "besten Fans der Welt" (Copyright: Lewis Hamilton) sitzen, sondern was in der ersten Kurve oder beim Boxenstopp genau passiert ist und warum.

Bravo, Sky UK!

Apropos Ted Kravitz: Die Übertragung von Sky in England, die jetzt auch für deutsche Formel-1-Fans via F1 TV zugänglich ist, ist die reinste Wohltat! Eine ganz eigene Liga, eine hervorragende Mischung aus Entertainment und Kompetenz. Kravitz und Co. beweisen, dass es möglich ist, den Zuschauern technische Details und politische Zusammenhänge ordentlich zu erklären und gleichzeitig verständlich zu bleiben. Ein Spagat, an dem RTL in Deutschland leider kläglich scheitert.

Länger als bei RTL bin ich beim ORF hängen geblieben. Ernst Hausleitner und Alexander Wurz, das spürt man, sind auch privat gut befreundet, und das tut der Übertragung gut. Der Schmäh rennt, wie wir Österreicher sagen.

Natürlich schaffen es die beiden aufgrund des wesentlich geringeren Budgets des ORF im Vergleich zu Sky nicht, die gleiche Detailtiefe zu transportieren. Aber Hausleitner/Wurz sind unterhaltsam, und das auf eine authentische, nicht gekünstelte Art. Und sie verstehen auch, wovon sie reden.

Was ich kaum bis gar nicht genutzt habe, sind die zusätzlichen Broadcast-Angebote, die Liberty Media geschaffen hat. Die Liveshow auf Twitter zum Beispiel ist zwar durchaus ansprechend gestaltet, aber ganz ehrlich: Wenn ich gemütlich vor dem Fernseher sitze, will ich mir nicht Gedanken darüber machen, wo gerade die besten Interviewgäste sprechen.

Ich will bei meinem Haussender - welcher auch immer das ist - vorgesetzt bekommen, was am wichtigsten ist, und mir nicht überlegen müssen, wo ich gerade hinzappen soll. Alles aus einer Hand - aber vielleicht bin ich als Jahrgang 1982 auch schon zu alt, um das oft zitierte neue Medienverhalten noch zu lernen. Oder wird doch zu viel Hype um etwas gemacht, was ganz klassisch immer noch am besten funktioniert?

Tolle Ergänzung: Paddock live, den ganzen Tag!

Eine Freude war es dafür, den Paddock-Liveticker des Kollegen Stefan Ehlen zu lesen, der mit dem iPad in der Hand (auch mal in der Werbepause) eine perfekte Ergänzung zur Vor- und Nachberichterstattung im TV ist. Der Ticker beantwortet alle Fragen zum Rennen kompakt und schnell, und wer's dann doch ein bisschen tiefer mag, der kehrt ein paar Stunden später zurück, um die fein ausgearbeiteten Analysen der Kollegen zu lesen. Ein Feature, das für mich aus der Zuschauerperspektive nicht wegzudenken wäre.

Apropos Stefan Ehlen: Er hat auch heute die Schwesternkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" geschrieben. Und sich darin mit dem Halo-System auseinandergesetzt, das gestern beim Startcrash eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber das lesen Sie am besten selbst auf de.motorsport.com nach!


Mick Schumacher im "Wohnzimmer meines Vaters"

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Der Formel-3-EM-Sieg in Spa hat ihm besonders viel bedeutet - Sein Ziel bleibt weiterhin: die Formel 1 Weitere Formel-1-Videos

Ach, übrigens - um die fast wichtigste Lektion meiner ungewohnten Rolle als Zuschauer nicht unter den Tisch fallen zu lassen: Die Formel 1 2018 ist wirklich spannend, auch wenn nicht jede Rennrunde Action bietet. Muss auch nicht sein. Und mindestens genauso spannend wie das Racing, das ich wirklich attraktiv finde, sind die Dinge, die neben der Strecke passieren.

Die Formel 1 hat das inzwischen verstanden und mit ihrem offiziellen Podcast 'Beyond the Grid' ein sensationelles Format geschaffen, in dem Legenden des Sports eine Stunde lang über ihre Karriere sprechen. Das finde ich persönlich spannender als viele der völlig belanglosen Interviews, die teilweise in der Vor- und Nachberichterstattung stattfinden. Mehr davon, bitte!

Ihr Christian Nimmervoll

PS: Folgen Sie mir oder meinen Kollegen auf Twitter unter @MST_ChristianN!

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