Stallorder-Boxenfunk vergessen: Leidet Lando Norris an Amnesie?
Hätte McLaren Lando Norris vor dem Restart an Oscar Piastri vorbeischleusen sollen? An dieser Frage scheiden sich nach Imola 2025 die Geister ...
(Motorsport-Total.com) - Der Grand Prix der Emilia-Romagna 2025 in Imola befand sich gerade in der 49. von 63 Runden, und das Feld fuhr hinter dem Safety-Car. Lando Norris hatte an dritter Stelle liegend durch die Tosa-Kurve hindurch optimalen Blick auf die Reifen seines Vordermannes Oscar Piastri - und er drückte den Funk-Knopf: "Ich sehe, dass Oscars Reifen ziemlich hinüber sind."

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Dieses Überholmanöver hätte laut Jacques Villeneuve viel früher passieren sollen Zoom Download
"Wenn wir eine Chance haben wollen, um die Führung zu kämpfen, dann wissen wir wohl, was zu tun ist", schlug er seinem Renningenieur Will Joseph vor und stellte klar: "Ich bitte nicht darum, vorbeigelassen zu werden. Ich sage nur: Lass es uns einander nicht zu schwer machen, das ist alles. Wenn wir kämpfen, könnten wir nach hinten durchgereicht werden."
Der McLaren-Kommandostand entschied sich dazu, diesen Vorschlag zu verwerfen, obwohl Norris' Reifen 16 Runden weniger auf dem Buckel hatten als die von Piastri. Dabei hätte jedem "zu 100 Prozent klar" sein müssen, "dass es nur eine Frage von Runden war, bis Norris Piastri aufgrund des Reifenunterschieds überholen würde", wie Sky-Experte Jacques Villeneuve kritisiert.
Villeneuve: McLaren muss auf Verstappen schauen
Aber McLaren zeigte keine Reaktion. Im Boxenfunk zwischen Norris und Joseph wurde das Thema bis Rennende nicht mehr angesprochen, und Piastri wurde über derartige Gedankengänge nicht einmal informiert. Dabei wäre es laut Villeneuve nur logisch gewesen, situationsbedingt eine Stallorder zu Norris' Gunsten auszusprechen: "Warum drei Runden verlieren, anstatt ihm eine Chance gegen Verstappen zu geben? Denn Verstappen kämpft um die Meisterschaft. Man sollte ihm keine Siege schenken."
Norris machte sich nichts draus und löste das Problem im Rad-an-Rad-Duell, als er in der Tamburello-Schikane an Piastri vorbeiging. Nur: Als das erledigt war, hatte er auf Leader Max Verstappen im Red Bull 4,1 Sekunden eingebüßt. Damit war das Rennen in Imola für ihn nicht mehr zu gewinnen.
Nach der Zieldurchfahrt wurde Norris in der FIA-Pressekonferenz gefragt, ob es am Boxenfunk Diskussionen darüber gegeben habe, wie Piastri und er die letzten Runden angehen sollen. "Nein", erwiderte er ohne mit der Wimper zu zucken - und selbst auf Nachfrage, ob wirklich nie über eine Teamorder gesprochen wurde, weil er ja die frischeren Reifen hatte, lautete seine Antwort: "Nein. Es gab nichts."
Entweder leidet der 25-Jährige an Amnesie, was für einen Spitzensportler seines Alters sehr ungewöhnlich wäre - oder aber er bediente sich einer kleinen Notlüge, um der stets unangenehmen Teamorder-Diskussion aus dem Weg zu gehen, nicht wissend, dass sein Boxenfunk im internationalen TV-Broadcast ausgestrahlt worden war.
Stella: McLaren hat sehr wohl über Teamorder nachgedacht
McLaren-Teamchef Andrea Stella räumte später ein, Norris an Piastri vorbeizuwinken, das sei sehr wohl "definitiv eine Überlegung" gewesen. Letztendlich habe man sich aber am Kommandostand dagegen entschieden, denn "wir wollten Oscar auf jeden Fall die Möglichkeit geben, beim Neustart seine eigenen Chancen zu nutzen".
Stella findet, dass das die einzig faire Möglichkeit war, das Rennen im Geiste der "Papaya-Rules" zu managen, und "ich denke, dass beide Fahrer damit einverstanden sind". Außerdem stellt Stella klar: "Wenn Lando in der Lage gewesen wäre, Max zu überholen, hätte er auch Oscar ziemlich leicht überholen müssen, da Oscar auf sehr alten Reifen unterwegs war."
Das war aber nicht der Fall. Trotz des Reifenvorteils benötigte Norris vier Runden, um am eigenen Teamkollegen vorbeizugehen. Dass er Verstappen aus eigener Kraft geschlagen hätte, mit gleichwertigem Reifenmaterial, gilt so gesehen als unwahrscheinlich.
Aber Villeneuve lässt solche Argumente nicht gelten: McLaren "zeigt Schwäche", findet der Weltmeister von 1997, und: "Es scheint, als hätten sie Angst, gegen Piastri vorzugehen. Das ist wirklich, wirklich seltsam. Piastri hat die erste Kurve vermasselt. Er hat geschlafen und hätte niemals als Zweiter aus der Kurve kommen dürfen. Und dann hatte er nicht die Pace. Norris war schneller."
War McLaren in Imola einfach nicht schnell genug?
Wahr ist aber auch: Als Norris in Runde 58 an Piastri vorbei war, hatte er 4,1 Sekunden Rückstand auf Verstappen. Bis Runde 62 wuchs dieser Abstand auf 6,5 Sekunden an. "Und um in Imola zu überholen, musst du sieben, acht Zehntel schneller sein als der Vordermann", rechnet Stella anhand der McLaren-Datensammlung vor.
Zumal Norris zwar daran erinnert hatte, dass er auf den besseren Reifen war - aber er stellt gleichzeitig klar: "Ich habe nichts erwartet." Das Duell mit Piastri, das er letztendlich für sich entscheiden konnte, "hat natürlich Zeit gekostet. Mir, und ihm auch." Aber: "Wenn man versucht, den einen glücklich zu machen, wird der andere immer unglücklich sein. So ist es eben. Wir haben das gut gehandhabt."
Das sieht auch Alexander Wurz so. In seinen Augen wäre eine McLaren-Festlegung auf eine Nummer 1 im Team "bei zwei solchen Topfahrern zu früh. Das wäre zu brutal einem der Fahrer gegenüber und würde ich aus McLaren-Sicht noch nicht machen. Die WM ist weit offen. Und sie dürfen nicht vergessen, dass sie auch um eine Konstrukteurs-WM kämpfen", sagt der ORF-Experte in einem Interview auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de.