Step-by-Step-Analyse: So hat das Safety-Car Lando Norris in Miami geholfen

War es rennentscheidend, dass das Safety-Car statt vor Norris erst vor Verstappen rausfuhr? Wir schlüsseln die Situation chronologisch auf ...

(Motorsport-Total.com) - Es war eine Szene, die bei vielen Zuschauern Fragezeichen hinterlassen hat, als das Safety-Car beim Grand Prix von Miami nicht vor Leader Lando Norris auf die Strecke fuhr, sondern vor Max Verstappen, dem Zweitplatzierten.

Das Safety-Car hat am Sonntag den Grand Prix von Miami entschieden

Im Live-Kommentar des ORF schwante Alexander Wurz Böses: "Da werden wir sicher wieder groß drüber diskutieren", denn: "Da hat die FIA mit dem Fehler Lando Norris ein Geschenk gemacht."

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Die kuriose Situation beginnt mit der Kollision zwischen Logan Sargeant und Kevin Magnussen in Kurve 3, die zunächst gelbe Flaggen auslöst. Zu dem Zeitpunkt liegt Norris, der noch nicht gestoppt hat, mit 27 Runden alten Mediumreifen in Führung, 11,4 Sekunden vor Max Verstappen, der seinen Boxenstopp schon hinter sich hat und mit vier Runden alten Hards fährt.

Dem McLaren-Kommandostand dämmert, dass der lange erste Stint jetzt zum großen Joker werden könnte. Dann nämlich, wenn die Rennleitung das Safety-Car auf die Strecke schickt und Norris seinen Reifenwechsel zum Billigtarif absolvieren kann, während das Tempo seiner Verfolger gedrosselt ist.

Norris fährt gerade auf Kurve 17 zu, als ihm sein Renningenieur Will Joseph signalisiert: "Safety-Car-Fenster offen." Oder, in anderen (nicht so ausgesprochenen) Worten: "Sollte das Safety-Car jetzt aktiviert werden, komm unbedingt an die Box!" Die McLaren-Crew macht sich indes schon für den Reifenwechsel bereit.

Runde 28: Norris verpasst (vermeintlich) die Siegchance

14 Sekunden nach diesem Funkspruch fährt Norris an der Boxeneinfahrt vorbei. Es werden nach wie vor gelbe Flaggen geschwenkt. Weitere fünf Sekunden später dann: Safety-Car! Ein paar McLaren-Mechaniker schauen verwirrt in Richtung Boxeneinfahrt und wundern sich, dass Norris nicht daherkommt.

Norris ist um ein paar Meter an der Boxeneinfahrt vorbei und ärgert sich, setzt am Boxenfunk ein selbstbemitleidendes Lachen ab und murmelt irgendwas, was man im Nachhinein nicht mehr verstehen kann. Er scheint zu ahnen: Verdammt nochmal, so knapp dran!

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Wurz kommentiert im ORF, das sei aus Norris-Sicht "nicht nur ein bisschen ärgerlich, sondern äußerst ärgerlich. Fast ein Geschenk zu bekommen, und dann doch gelackmeiert zu sein."

Was Norris besser gemacht hat als Verstappen

Wurz erkennt aber auch sofort: "Er darf jetzt noch angasen, so gut wie möglich." Der Renningenieur erinnert Norris dran, an der Safety-Car-Deltazeit zu fahren, was Norris auch tut.

Gut zehn Sekunden hinter ihm fährt Verstappen jetzt an der Boxeneinfahrt vorbei. Wurz wundert sich in der Live-Übertragung: "Ich verstehe nicht, warum der Max so langsam fährt."

Was die TV-Kameras nicht einfangen: Der Red-Bull-Pilot überlegt offenbar kurzzeitig, ob er reinkommen soll, oder muss für die Deltazeit abbremsen. Jedenfalls bleibt er fast stehen, ohne das am Boxenfunk irgendwie zu erklären - und beschleunigt dann doch an der Boxeneinfahrt vorbei. Eine Aktion, die ihn 2,9 Sekunden kostet.

Jetzt fährt Bernd Mayländer mit dem Safety-Car auf die Strecke - zu einem Zeitpunkt, als klar ist, dass er Norris nicht mehr einfangen würde. Wurz dämmert sofort: "Der hat den Falschen! Der hat den Leader nicht erwischt. Das Safety-Car hat sich nicht vor den Leader gesetzt."

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Die FIA teilt dazu auf Anfrage mit: "Bernd hat Norris um ungefähr 20 Meter verpasst, als er aus der Box gefahren ist. Weil es eine späte Entscheidung (im englischen Original: late Call; Anm. d. Red.) war."

Norris habe "eine Masen" gehabt, sagt Wurz auf gut Österreichisch. Also richtig Dusel. Aber auch einen smarten Renningenieur, der die Situation sofort begreift und Norris instruiert: "Du bist vor dem Safety-Car. Mach jetzt einfach einen guten Job mit dem Delta!"

Verstappen läuft dahinter vor Kurve 6 auf Mayländer auf. Dadurch, dass der Abstand in Metern auf der Strecke unter Safety-Car-Bedingungen zwar (halbwegs) konstant bleibt, bei langsamerem Tempo aber der Zeitabstand wächst, liegt Verstappen zu dem Zeitpunkt schon mehr als 20 Sekunden hinter Norris.

Damit ist klar: Norris wird in Führung bleiben, auch wenn er erst eine Runde später als im Idealszenario an die Box kommt.

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Runde 29: Norris kommt doch noch rechtzeitig an die Box

Jetzt kommt noch dazu: Während Norris sein Tempo innerhalb der erlaubten Deltazeit maximieren kann, wird Verstappens Tempo durch Mayländers Geschwindigkeit diktiert. Das macht im zweiten Sektor 8,8 Sekunden aus, und dadurch wächst der Abstand auf insgesamt 32,0 Sekunden an, als Norris am Ende der 29. Runde an die Box fährt.

"Lando, du wirst vor dem Safety-Car auf die Strecke kommen", funkt Joseph an seinen Fahrer. Norris fährt aus der Box, reagiert kurzzeitig auf den Hinweis seines Renningenieurs, bremst fast auf Stillstand ab. Joseph sieht das und meldet sich erneut: "Bleib für den Moment bitte einfach auf deinem Delta." Und Norris beschleunigt wieder.

Die Situation wird aufgelöst und bereinigt, als Mayländer das Feld überholen lässt, sodass Verstappen & Co. zu Norris aufschließen können.

Wurz nimmt Rennleiter Niels Wittich in Schutz

Eine komplexe Situation also, die für die TV-Zuschauer im ersten Moment merkwürdig anmutete - letztendlich aber völlig korrekt gehandhabt wurde. Wurz erklärt: "Es ist empfohlen, dass sie den Führenden nehmen, aber es ist nicht vorgeschrieben. Das Safety-Car kann rausfahren, wann immer es von der Rennleitung als notwendig erachtet wird."

Selbst McLaren-Teamchef Andrea Stella hatte die Situation unmittelbar nach Rennende noch nicht durchschaut: "Als das Safety-Car rausgeschickt wurde, schaute ich aufs GPS. Ich weiß nicht, wo Lando genau war. Aber er wusste, dass er in die Box kommen muss, sobald das Safety-Car kommt. Also muss er schon daran vorbei gewesen sein. Ich habe das aber bisher nicht überprüft."

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Stehen bleibt: Ja, Norris ging durch das Safety-Car in Führung, weil er so seinen Boxenstopp zeitsparend absolvieren konnte. Und ja, ein Safety-Car, das vor ihm statt Verstappen rausgefahren wäre, hätte ihn wahrscheinlich den Sieg gekostet. Denn dann hätte sich auch Norris nach dem Tempo des Safety-Cars richten müssen.

Wäre Norris hingegen gleich in Runde 28 reingefahren, wie es McLaren eigentlich vorhatte, aber um ein paar Sekunden zu spät kam, dann hätte Norris ganz unabhängig von der Position des Safety-Cars die Führung übernommen. So haben letztendlich, laut FIA-Aussage, 20 Meter von Bernd Mayländer den Unterschied über Sieg oder Niederlage gemacht.

Norris' profitierte davon, dass er einen langen ersten Stint fahren konnte. So war er in der Position, aus dem Safety-Car Nutzen zu ziehen und seine Streckenposition trotz des Boxenstopps zu behalten. Und dass er so lang draußen blieb, war eine Konsequenz der starken Pace, die er gehen konnte, als Sergio Perez vor ihm an die Box fuhr, der ihn zuvor rundenlang aufgehalten hatte.

So gut war die McLaren-Pace im Rennen

Kaum war Perez weg, war Norris der schnellste Mann im Rennen. Verstappen bekam die Rundenzeiten des McLaren-Piloten durchgegeben - und gab später zu, er habe diese für "verrückt" ("insane"; Anm. d. Red.) gehalten: "Ich hätte die mit den Reifen nicht fahren können."

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Stella erklärt: "Lando fühlte sich so wohl mit den alten Reifen, dass ich sehr gern gesehen hätte, wie lang er dieses Tempo unter normalen Umständen noch hätte fahren können. Wir hatten keinen Plan, an die Box zu kommen, solang er persönlich beste Sektoren fährt und seine Zeiten mit denen der anderen Fahrer auf frischen Hards konkurrenzfähig sind."

McLaren hatte so oder so vor, den Stint so lang wie möglich anzulegen, "denn das hat zwei Vorteile. Erstens könnte ein Safety-Car kommen, von dem du dann profitierst. Und zweitens hast du dann am Ende die viel frischeren Reifen, und du kannst die Autos vor dir vielleicht nochmal attackieren", erklärt Stella.

Im letzten Stint hatte Norris sechs Reifenrunden Vorteil gegenüber Verstappen und zehn gegenüber Charles Leclerc. Als der Neustart einmal überstanden war, war eigentlich klar, dass er das Rennen gewinnen würde.

Wovor McLaren nach dem Neustart Angst hatte

"Meine Hauptsorge war", erinnert sich Stella an die Schlussphase, "dass das Safety-Car nochmal rauskommt, denn dann bist du als Führender immer in der schwierigsten Position, eine Entscheidung zu treffen. Bleibst du draußen, um Streckenposition zu halten, oder kommst du rein, um frische Reifen zu holen?"

Genau jenes Dilemma, vor dem im legendären WM-Finale in Abu Dhabi 2021 das Mercedes-Team von Lewis Hamilton stand. Der Erste muss sich entscheiden, der Zweite macht dann genau das Gegenteil ("Box opposite") - und hat entweder den Vorteil der frischeren Reifen (wie damals Verstappen), oder aber er gewinnt/behauptet die Streckenposition (wie Hamilton).

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"Es gab so viele Kämpfe im Feld, dass ich mir jedes Mal dachte: 'Bitte nicht crashen!'", lacht Stella. Das McLaren-Team war so nervös, dass sogar Oscar Piastri angewiesen wurde, keine riskanten Aktionen mehr zu reiten, damit nicht am Ende eine Dummheit von ihm noch das Safety-Car triggert.

"Letztendlich", sagt Stella, "hatten wir ein bisschen Unterstützung durch das Safety-Car. Aber wir waren auch unabhängig davon in einer starken Position, weil unsere Pace sehr stark war. In den anderen Sessions hatte sich das nur phasenweise gezeigt. Da war uns nicht klar, was die Wahrheit war: die guten Anzeichen, oder die Enttäuschungen."

Jetzt, im Nachhinein, ist klar: Norris und McLaren waren am Rennsonntag einfach die schnellste Kombination in Miami.