Stefan Bellof und die ewige Frage: Genie oder Hasardeur?
Vor 40 Jahren starb Stefan Bellof in Spa. Freunde und Rivalen erinnern sich: War er Crashpilot oder Deutschlands erster angehender Formel-1-Weltmeister?
(Motorsport-Total.com) - Die Rundenzeiten waren für den Vorsprung viel zu schnell, und Derek Bell begab sich zur Boxenmauer des Nürburgrings. Er schlug vor, seinem temperamentvollen jungen Teamkollegen vielleicht die "HOLD"-Tafel zu zeigen, also Tempo rausnehmen.

© Rainer W. Schlegelmilch / Motorsport Images
Stefan Bellof galt als Jahrhunderttalent, wurde aber als unbeherrscht kritisiert - zu Recht? Zoom Download
Das Porsche-Management war damit nicht einverstanden, und wenige Minuten später schied Stefan Bellof auf spektakuläre Weise in Führung liegend aus, als er am Pflanzgarten-II-Sprung einschlug. Die Stelle, an der der Porsche 956 zum Stehen kam, heißt heute Stefan-Bellof-S.
Die Ereignisse des 1000-Kilometer-Rennens auf dem Nürburgring 1983 - vor und nach dem Unfall - spielen eine wichtige Rolle in der Legende von Stefan Bellof. Seine Vorstellung auf der Nordschleife zu Beginn seiner erst vierten vollständigen Saison im Automobilsport bestätigte das Talent, das schon seit seinem Debüt in einem Rennwagen offensichtlich war.
Er fuhr Rekordrunden - die legendären 6:11.13 Minuten im Qualifying und 6:25.91 Minuten im Rennen. Aber auch der Unfall, bei dem er selbst unverletzt blieb, spielt eine Rolle in der Bellof- Geschichte.
Er bleibt als extravaganter Racer in Erinnerung, der immer am Limit fuhr, vielleicht sogar als Fahrer, der seine Grenzen nicht kannte. Bei manchen sogar als Crashpilot. Dieser Ruf, ob gerechtfertigt oder nicht, wurde durch seinen Tod beim 1000-km-Rennen von Spa am Steuer eines privaten Brun-Porsche am 1. September 1985 noch verstärkt, als er in Eau Rouge einen waghalsigen Überholversuch gegen Jacky Ickx? Werks-Porsche unternahm.
Bellof hätte an jenem Tag 1983 auf dem Ring nicht so hart attackieren müssen. Er wusste, dass er schneller war als seine Konkurrenten - er hatte die Poleposition mit fünf Sekunden Vorsprung erobert.
Bilder aus der Karriere von Stefan Bellof
Am 1. September 1985 verunglückte Stefan Bellof tödlich in Spa. Er galt als einer der besten Rennfahrer seiner Zeit, hielt bis 2018 den Rundenrekord auf der Nürburgring-Nordschleife. Mit Bildern aus seiner Karriere erinnern wir an das deutsche Ausnahmetalent! Fotostrecke
Dieses Rennen hatten er und Bell in der Tasche, auch wenn ein Großteil des 45-Sekunden-Vorsprungs, den er sich im ersten Stint erarbeitet hatte, verschwunden war - nicht zuletzt, weil seinem Teamkollegen der Sprit ausgegangen war, als er den Werks-956 an die Box fuhr, um das Auto wieder an Bellof zu übergeben.
Vollgas über die Sprungkuppe gegen jeden Rat
Bell erinnert sich, dass er überrascht war, dass Porsche Bellof keine Anweisung gab, langsamer zu fahren; "Ich ging zu Professor Helmuth Bott [Porsches Forschungs- und Entwicklungschef] und schlug vor, dass es wünschenswert wäre, wenn er das 'HOLD'-Schild heraushalten würde. Er sah mich an, lächelte und sagte: 'Ist er nicht fantastisch?' Das hatte ich von einem großen Mann wie Bott nicht erwartet."
"Sie gingen zurück zu ihren Stoppuhren, und zwei Runden später verunglückte Stefan. Wir hätten einfach nur zu Ende fahren müssen, dann hätten wir gewonnen. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Porsche Stefan an diesem Tag im Stich gelassen hat."
Porsche-Legende Norbert Singer erklärte, er vermute, dass Bellof verunglückt sei, weil er am Pflanzgarten-Sprung neben der Ideallinie fuhr. Das stimmt nicht. Der wahre Grund ist eine Mischung aus der bereits erwähnten Extravaganz, einem grenzenlosen Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und der Forschheit eines echten Racers, der den Nervenkitzel des Fahrens am Limit liebte.
Die Wahrheit: Bellof wurde im Vorfeld informiert, dass er den Pflanzgarten-II-Sprung nicht mit Vollgas nehmen sollte, und konnte der Versuchung nicht widerstehen...
Brian Lisles, der Bellof während seiner Zeit beim Tyrrell-Formel-1-Team in den Jahren 1984 und 1985 als Ingenieur betreute, verrät, dass Bellof es ihm und einigen Teamkollegen gestanden habe, als er sie auf eine Runde auf dem alten Ring mitnahm.
"Er erzählte uns, dass er immer schneller wurde und dass alle Ingenieure gesagt hätten, er solle diese bestimmte Kuppe bloß nicht voll nehmen", erinnert sich Lisles. "Letztendlich nahm Stefan die Kurve dann doch voll und hob ab. Er fand das unglaublich lustig.?
Warum Bellof kein Crashpilot war
Lisles glaubt aber nicht, dass Bellof ein Fahrer war, der ständig kurz vor einem Unfall stand: "Seine Fahrweise hatte etwas Extravagantes, was vielleicht diesen Eindruck erweckte. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er ein Crashpilot war.?
Martin Brundle, der regelmäßig Bellofs Teamkollege in der Formel 1 war, stimmt dem zu. "War ich nicht derjenige, der ständig die Tyrrells zu Schrott gefahren hat?", lacht er in Anspielung auf seine Unfälle in Monaco und Dallas im Jahr 1984. "Stefan war ein bisschen wild, aber kein Crashfahrer."
Dass er auch mit Köpfchen fahren konnte, zeigt sein Fahrertitel in der Langstrecken-Weltmeisterschaft 1984, die damals innerhalb der Sportwagen-Weltmeisterschaft ausgetragen wurde und nicht mit der heutigen WEC zu verwechseln ist.
Diejenigen, die während seiner zwei Saisons im Werksteam bei Porsche fuhren, sind in dieser Frage derselben Meinung. Singer ist der Ansicht, dass Bellofs Ruf durch seinen Unfall auf dem Nürburgring zu Unrecht beschädigt wurde.
"Sein Unfall auf dem Ring war sehr spektakulär, und die Leute dachten, dass er das jeden Tag machte", sagt er. "Er hatte gar nicht so viele Unfälle. Er kannte seine Grenzen, deshalb war er so ein guter Fahrer. Aber er hatte keine Angst davor, diese Grenzen ein wenig zu überschreiten."
Supertalent vom ersten Meter an
Jeder, der mit Bellof zusammengearbeitet hat, wird bestätigen, dass er nichts weniger als ein Megatalent war. Der langjährige Formel-3-Teambesitzer Bertram Schafer gab Bellof 1981 die Möglichkeit, die zweite Hälfte der deutschen Meisterschaft in einem Ralt RT3 mit Toyota-Motor zu bestreiten, während er gleichzeitig mit Walter Lechner Racing in der Formel Ford 1600 und der Formel Super V fuhr.
"Ich kannte Stefan schon seit ein paar Jahren, weil sein Bruder Georg bereits für mein Team gefahren war", erklärt Schäfer. "Ich hatte ihn schon einige Male bei Rennen beobachtet, also haben wir ihn testen lassen, und er war unglaublich.
Ich hatte keine Zweifel, dass ich ihn nehmen sollte. Das einzige Problem war die finanzielle Situation, aber wir hatten keine andere Wahl, als ihn auf die Strecke zu schicken. Ein Team wie unseres profitierte immer von den Ergebnissen eines guten Fahrers."
Bellof stieg 1982 mit dem Maurer-Team in die Formel 2 auf, und es war Schäfer, der ihn dem deutsch-britischen Team empfahl. "Ich war mit F2-Verträgen für einzelne Rennen unterwegs und hatte einen neuen Maurer-Boliden für die folgende Saison bestellt", erklärt Schäfer.
"Ich wusste, dass ich nicht das Geld hatte, um Stefan zu engagieren, also sagte ich Maurer, er solle ihn unter Vertrag nehmen, bevor es jemand anderes tat."
Bellof gewann bekanntlich die ersten beiden Rennen seiner Formel-2-Karriere in Silverstone und Hockenheim, aber er hatte das Team aus Bolton schon vom ersten Moment an beeindruckt, als er sich zum ersten Mal in eines seiner Autos setzte.
"Stefan war ein so begnadeter Fahrer", erinnert sich Maurer-Teamchef Paul Owens. "Er konnte mit einem agilen Auto umgehen, was in den Tagen des Ground Effects perfekt war. Er mochte steifere Autos als seine Teamkollegen, und diese Autos waren umso besser, je härter man sie fuhr."
"Er hatte eine angeborene Car Control und kam auf jeder Rennstrecke sofort zurecht. Ich werde nie vergessen, wie ich nach Thruxton fuhr und ihm sagte, er solle auf die große Bodenwelle in der Church Corner achten. Nach seiner ersten Runde kam er herein und fragte: 'Welche Bodenwelle?'. Er war diese Art Fahrer."
Owens glaubt wie viele andere, die während Bellofs kurzer Karriere mit ihm zusammengearbeitet haben, dass er zu Großem bestimmt war: "Er hätte es bis ganz nach oben schaffen können. Aber er hätte einen guten Mentor gebraucht, um sein Talent in kontinuierliche Ergebnisse umzusetzen."
Brundle stimmt dem zu. "Er hätte sich mit jemandem wie Ross Brawn zusammentun müssen", sagt er. "Stefan war unglaublich schnell, aber um das in echten Erfolg umzuwandeln, hätte er viel mehr Beherrschung an den Tag legen müssen. Er hätte es bis ganz nach oben schaffen können. Aber er war eher vom Typ Gilles Villeneuve als Alain Prost."
In der Formel 1 schnell respektiert
Manche sagten, dass Bellof das technische Verständnis gefehlt habe, um es an die Spitze zu schaffen. Lisles ist sich da nicht so sicher: "Ich würde nicht sagen, dass er technisch so begabt war wie Ayrton Senna oder Prost, aber das kommt zum Teil auch mit der Erfahrung."
"Aber ich erinnere mich, dass ich erstaunt war, als er zum ersten Mal den Tyrrell fuhr und auf jeder Geraden die maximale Drehzahl herausholte. Es war sonst schwer genug, den Fahrern beizubringen, auf den Drehzahlmesser zu schauen, geschweige denn sich zu merken, was sie sahen.
"Er war bereits für Porsche gefahren und in vielerlei Hinsicht sehr diszipliniert, was die methodische Herangehensweise anging. Er war beim Feedback sehr diszipliniert."
Der entscheidende Moment in Bellofs kurzer Karriere kam für Lisle beim Grand Prix von Monaco 1984. Jeder erinnert sich an den zweiten Platz von Senna hinter Prost in dem verkürzten Rennen, aber der Deutsche fuhr auf seinem Tyrrell-Cosworth 012 mit Saugmotor auf Platz drei schnellere Rundenzeiten als beide.
Senna beendete das Rennen mit einem verbogenen vorderen Querlenker; Bellofs Auto war laut Lisles "nach dem Rennen unbeschädigt".
Bellof hatte Rene Arnoux' Ferrari überholt und sich den dritten Platz gesichert, der später aufgrund der Disqualifikation von Tyrrell aus der Weltmeisterschaft aus den Rekordbüchern gestrichen wurde. Dieses Manöver - mit zwei Rädern auf dem Randstein in Mirabeau - erregte die Aufmerksamkeit von Enzo Ferrari.
Bellof, der bereits einen Vertrag mit dem Ferrari-Sponsor Marlboro für 1985 hatte, stand kurz vor dem Beginn von Verhandlungen mit der Scuderia. Porsche-Motorsportchef Manfred Jantke, der ihm seinen Vertrag für 1983 gegeben hatte, erinnert sich, dass Bellof ihm von einer Reise nach Fiorano erzählt hatte.
"Er erzählte mir, dass er dieses Treffen mit Ferrari hatte und dass er den Besitzer seiner Lieblingspizzeria in Gießen [seiner Heimatstadt] eingeladen hatte, ihn zu begleiten, damit sie das Geschehen auf Italienisch verfolgen konnten", erinnert sich Jantke. "Bevor das Treffen stattfinden konnte, kam Stefan ums Leben."
"Ich glaube, wenn Stefan noch gelebt hätte, hätte Deutschland das Schumacher-Wunder zehn oder mehr Jahre früher erlebt."