• 12. Dezember 2022 · 08:12 Uhr

Ross Brawn über den Erfolg und Misserfolg der Formel-1-Regeln 2022

Der scheidende F1-Sportchef Ross Brawn blickt nach der ersten Saison der modernen Ground-Effect-Autos zurück: Was gut, was schlecht, was überraschend war

(Motorsport-Total.com) - Die grundlegende Neufassung der technischen Formel-1-Regeln für die Saison 2022 war Höhepunkt jahrelanger Bemühungen, um die Renn-Action im Grand-Prix-Sport zu verbessern. Und sie war Beginn einer neuen, aufregenden Ära.

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In Abu Dhabi ging im November die erste Saison mit dem jetzt aktuellen F1-Reglement zu Ende Zoom Download

In Bezug darauf, wie gut die Autos auf der Strecke einander folgen können, wurden zweifellos große Fortschritte erzielt. Dennoch war die Formel-1-Saison 2022 nicht ohne Makel. Die Dominanz von Red Bull bedeutete, dass der Kampf um den WM-Titel schon kurz nach der Sommerpause mehr oder weniger entschieden war. Und obwohl einige der Rennen wirklich gut waren, gab es nicht die dramatische Verbesserung, die sich einige erhofft hatten.

Als einer derjenigen, der für neuen Regeln hauptverantwortlich war, gibt der scheidende Formel-1-Sportchef Ross Brawn bereitwillig zu, dass die Dinge nicht perfekt waren. Auf die Frage, wie er den Erfolg der neuen Regeln einschätzt, sagt Brawn: "Auf einer Skala von eins bis zehn würde ich sagen, acht oder neun. Das entspricht in etwa dem, was wir erreichen wollten."

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Ross Brawn nimmt die F1-Regeln 2022 rückblickend unter die Lupe Zoom Download

"Im Nachhinein glaube ich, dass wir ein paar Dinge, die wir geändert haben, wahrscheinlich besser hätten sein lassen. Wenn man sich zurückerinnert, gab es eine Phase, in der die Teams behaupteten, die Regeln seien zu restriktiv und die Autos würden alle gleich aussehen."

"Daraufhin haben wir unter Druck die Regeln ein wenig gelockert und in gewissen Bereichen mehr Freiheiten eingeräumt. Die Folge davon war aber, dass wir ausgenutzt wurden", so Brawn, der anmerkt: "Aber das ist die Formel 1. Man weiß, dass es so kommen wird."

"Gefangen" durch Bouncing

Das größte Gesprächsthema während der ersten Rennen war Hüpfen der Autos auf den Geraden - das Bouncing, von einigen auch als Porpoising bezeichnet. Von diesem Phänomen war der Großteil des Feldes betroffen. Und für Mercedes erwies es sich im Laufe des Jahres als das größte Problem.

Brawn räumt ein, dass sich die Formel-1-Chefs und die FIA zwar der Möglichkeit bewusst waren, dass die Rückkehr zum Ground-Effect ein Comeback des Porpoising auslösen könnte, dass sie aber nicht damit gerechnet hatten, wie schlimm sich die Dinge entwickeln würden.

Er vermutet aber auch, dass einige Teams zu gierig waren, um mehr Abtrieb zu erzielen. Der wäre theoretisch möglich gewesen, wenn man das Auto tiefer fährt. In der Realität aber wurde das Plus an Abtrieb nicht erreicht.


Mittags-Update: Hat Mercedes ein Problem?

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Mercedes fällt bei den Formel-1-Wintertests in Barcelona bisher negativ auf. Der "Ground-Effect" bereitet Lewis Hamilton am Donnerstag Kopfzerbrechen. Weitere Formel-1-Videos

"Ich glaube, dass das Porpoising ein größeres Problem war als wir erwartet hatten", sagt Brawn. "Ein Auto mit Ground-Effect kann aufgrund seines Konzepts per Definition hüpfen. Und diejenigen von uns, die das vor Jahren erlebt haben, wussten wahrscheinlich besser, wie man an diese Dinge herangehen sollte."

"Das gilt ganz besonders für Adrian [Newey]. Ich glaube nicht, dass sein Auto diesbezüglich große Probleme verursachte", spricht Brawn auf das Weltmeisterauto, den Red Bull RB18, an.

Brawn weiter: "Wir alle wissen, dass man ein Auto mit Ground-Effect nicht extrem hart abstimmen und mit extrem wenig Bodenfreiheit fahren kann. Das ist einfach zu kritisch. Ich glaube, einige Teams haben sich einfach verleiten lassen von der Vorstellung, wie viel Performance man erzielen kann, wenn man das Auto mit so wenig Bodenfreiheit wie möglich und so hart wie möglich fährt. Aber in der realen Welt konnte man das nicht tun."

"Die Folge war", so Brawn weiter, "dass diese Teams gefangen waren, weil sie ein Auto konstruiert hatten, das unter diesen Bedingungen funktionieren sollte. Es war ziemlich schwierig, davon wegzukommen, vor allem als sie den Performance-Verlust sahen".

"Aber ich finde, sie haben letztlich alle einen guten Kompromiss gefunden. Wir haben die Regeln nicht geändert. Mittlerweile gibt es kaum noch Porpoising. Letzten Endes war es ein kleines Problem zu Beginn, was eine Ablenkung und schade war", sagt Brawn.

Engeres Racing

Lag der Schwerpunkt der Formel-1-Regeln für 2022 darauf, dass die Autos einander besser folgen können, um so das Überholen zu erleichtern, so sagten die Fahrer, dass die Verbesserungen kein Unterschied wie Tag und Nacht waren. Der viermalige Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel hinterfragte sogar, ob sich der Aufwand für die neuen Regeln gelohnt habe.

"Sagen wir es mal so: Der große Vorstoß in diesem Jahr bestand darin, Autos zu kreieren, mit denen das Hintereinanderherfahren und damit das Überholen einfacher wird. Ich glaube aber nicht, dass es einen großen Unterschied gibt", sagte Vettel zu Beginn des Jahres.

"Wir können zwar dichter auffahren, haben aber weniger Luftwiderstand. Also muss man noch dichter dran sein, um auch überholen zu können. Und bei den Reifen war das große Ziel, besseres Racing zu ermöglichen. Ich glaube aber auch hier nicht, dass es einen großen Unterschied gibt. Ich will nicht sagen, dass [die Regeln] gescheitert sind. Aber es wurde sicherlich viel Aufwand betrieben und nicht alles hat funktioniert", so Vettel.


F1-Regeln erklärt: So funktioniert "Ground-Effect"

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Der "Ground-Effect" erklärt: Wie Venturi-Kanäle, Unterboden und Luftwirbel die neuen Autos noch schneller machen, aber für "Porpoising" sorgen. Weitere Formel-1-Videos

Brawn ist der Meinung, dass es ohne aktive Aerodynamik, mit der die vorausfahrenden Autos absichtlich eingebremst werden, unmöglich sei, einen Rennwagen zu bauen, der hinter einem anderen genauso schnell ist wie in Alleinfahrt. Er weist jedoch darauf hin, dass es eine Reihe von unbemerkten Verbesserungen gab, die hinsichtlich der Qualität der Rennen einen großen Unterschied bewirkt haben.

"Worüber oft nicht gesprochen wird, was uns aber immer bewusster wurde, waren die Auswirkungen, wenn zwei Autos Seite an Seite fahren. Wir alle reden immer vom Hintereinanderherfahren. Was aber nicht bedacht hatten als wir mit der Arbeit begannen und die Modelle gebaut haben, das war, wie groß der Einfluss des Nebeneinanderfahrens ist", sagt Brawn.

"Damit meine ich die Szenen, wenn ein Fahrer versucht, in einer Kurve eine enge Linie zu halten, dann aber ein anderes Auto neben sich hat und plötzlich Abtrieb verliert. Sobald das Auto neben ihm ist, verliert seines an Grip", erklärt Brawn und gibt offen zu: "Dieses Szenario hatten wir nicht richtig eingeschätzt."

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Brawn gibt zu: Effekt des Seite-an-Seite-Fahrens wurde unterschätzt Zoom Download

"Mittlerweile ist das weniger geworden", verweist Brawn auf technische Updates der Teams und sagt: "Ich glaube, dass es bei diesen Rad-an-Rad-Kämpfe, wenn zwei oder manchmal sogar drei Autos nebeneinander durch die Kurven fahren, inzwischen viel mehr Vertrauen gibt, dass nichts Seltsames passiert."

"Und eine weitere Rückmeldung, die ich von den Fahrern bekommen habe, war die, dass die Autos berechenbar sind. Die Balance verändert sich nicht dramatisch. Man verliert zwar an Abtrieb, aber man weiß, was das Auto macht. Es gibt nicht so viel Untersteuern, nicht so viel Übersteuern, einfach nicht diese Unberechenbarkeit wie im vergangenen Jahr."

Eine neue Denkweise

Brawn ist außerdem der Meinung, dass es falsch wäre, einen direkten Vergleich zwischen den alten und den neuen Autos anzustellen, da ein Festhalten an den alten Regeln die Formel 1 auf eine Abwärtsspirale geführt hätte: "Wir dürfen nicht vergessen, dass die Autos, die wir hatten, immer schlechter wurden. Und ohne etwas zu ändern, wären sie noch schlechter geworden."

"Wer weiß", so Brawn, "wie ein Auto für 2022 ausgesehen hätte, wenn wir ein Jahr länger [am alten Reglement] festgehalten hätten? Und wer weiß, wie ein 2023er-Auto ausgesehen hätte, wenn wir noch ein Jahr länger daran festgehalten hätten? Wir haben meiner Meinung nach nicht nur eine viel bessere Richtung gefunden, sondern wir haben auch den Absturz hin zu unfahrbaren Autos verhindert. Den nämlich hatten wir vor uns."

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Dass die 2022er-Regeln kamen, hält Brawn rückblickend absolut für richtig Zoom Download

Der vielleicht größte Erfolg der neuen Regeln ist nach Ansicht von Brawn aber etwas, was auf der Strecke greifbar wäre. Vielmehr ist es die Auswirkung, die sie auf die Einstellung der Regelmacher hatten. Denn es hat sich gezeigt, dass es nur Vorteile hat, wenn die Regeln so gestaltet und durchgesetzt werden, dass das Racing spannender wird.

"Ich finde, es war ein großer Erfolg. Und wichtig für mich ist, dass das Prinzip jetzt bestätigt wurde. Auf der Liste zukünftiger Regeländerungen sollte weit oben, wenn nicht sogar an erster Stelle, stehen: Wie gut lässt sich mit diesen Autos Rennen fahren?"

"Ich glaube, wir haben das sowohl auf der Strecke als auch objektiv anhand der Daten gesehen. Selbst die Skeptiker, und von denen gab es eine ganze Reihe, haben die Hände gehoben und gesagt: 'Nein, definitiv viel besser als vorher'", so Brawn.

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