• 03. September 2018 · 14:30 Uhr

Monzas Steilkurven: Der schönste Weg zur letzten Ölung

Dominik Sharaf hat sich bei einer Klettertour im alten Autodromo Nazionale auf die Spuren von Nuvolari und Co. begeben - und mit der Schwerkraft gekämpft

(Motorsport-Total.com) - Gäbe es nicht die Tausenden Tifosi, die das Autodromo Nazionale in Monza während eines Formel-1-Wochenendes bevölkern, wäre es ein tristes Pflaster. Die Infrastruktur ist in die Jahre gekommen, das Fahrerlager eine Betonwüste, die Verkehrssituation ein Debakel und die Parkplätze bei schlechtem Wetter so schlammig, dass sich das Auto ohne Gummistiefel nicht verlassen lässt. Doch wer eine Klettereinlage nicht scheut, kann den echten Charme des Italien-Grand-Prix noch erleben. Er muss nur die alten Steilkurven suchen.

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Raues Pflaster: Der Fahrbahnbelag ist so schroff wie ein Schleifstein Zoom Download

Das ist aber nicht einfach - obwohl jeder TV-Zuschauer sie während des Rennens dutzendfach im Fernsehen sieht, ohne es zu wissen. Die alte überquert die neue Strecke zwischen der zweiten Lesmo-Kurve und der Ascari-Schikane - über eine verwitterte Brücken-Konstruktion mit Weltkriegscharme, die mit so vielen Werbetafeln zugepflastert ist, dass sie als solche nicht mehr zu erkennen ist.

Da das alte Oval während der Rennwochenenden über die Kreuzungspunkte an der Parabolica-Kurve und am Ende der Start- und Zielgeraden nicht zugänglich ist, stapfe ich bei seichtem Regen über eine der Zufahrtsstraßen im Königlichen Park. Den Tipp, wo ich mich zur Steilkurve durchschlagen kann, habe ich von einem Kollegen, der dafür mit Schul-Italienisch auf einen Ordner eingeredet hat.

Es war kein ortskundiger Helfer: Nachdem ich in einer Sackgasse gelandet, den kompletten Weg zurückgelaufen und einen guten Kilometer weitergewandert bin, erspähe ich endlich eine Unterführung. Fünf Meter darüber ein vermoderter Zaun, hinter dem sie sich aufbaut: eine Steilkurve!


Fotostrecke: Die legendären Steilkurven in Monza

Während mein Blick umherschweift, um einen Weg hinauf zu finden, stelle ich mir vor, wie die Husaren der frühen Grand-Prix-Geschichte über den Beton gerast sein müssen. Reifen so schmal wie die meines Rennrads, keine Sicherheitsgurte und Lederkappen statt Helmen. Ein Himmelfahrts-Kommando. Wie viele Rennfahrer in dem so friedlichen Wäldchen ihr Leben gelassen haben?

Es müssen viele gewesen sein, denn lange bedeutete Monza einen einzigen Kampf gegen Geschwindigkeit: Sechs Jahre nachdem die Strecke 1922 von 3.500 Arbeitern und mit dem Geld des Automobil-Klubs von Mailand aus dem Parkboden gestampft worden war, gab es eine große Tragödie: Emilio Materassi, der fünfte Monza-Tote, starb bei einem Unfall und riss 27 Zuschauer mit in den Tod.

Das Debakel führte - mit Verzögerung und vier Todesfälle später - 1933 zum vorläufigen Aus für die 4,5 Kilometer lange Ovalstrecke. Gefahren wurde fortan nur noch auf einer 5,5 Kilometer-Rundkurs-Variante modifiziert durch zwei Schikanen, um die stets schnelleren Autos herunterzubremsen.

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Ein neues Hinweisschild erinnert an die alte Tradition des Highspeed-Ovals Zoom Download

Erst 1954 wurde großflächig umgebaut und eine 10-Kilometer-Strecke entstand - eine Kombination aus dem Oval und dem Rundkurs. Der Clou: Auf der Start- und Zielgeraden, wo sich die beiden Varianten trafen, fuhren die Autos parallel. Bei Einladungsrennen trafen europäische Sportwagen-Hersteller auf die US-amerikanische Indy-Szene. Für das "Race of two Worlds" oder die "500 Meilen von Monza" bürgerte sich schnell der Spitzname "Monzanapolis" ein. Es war ein Spektakel.

Doch europäische Autobauer machten nicht lange mit. Ihnen war das Abenteuer entweder per se zu gefährlich oder ihre Autos waren mit breiteren Spezialreifen auf der Beton-Buckelpiste unfahrbar. Es dominierten Wagen aus den USA - auch als sich Jaguar, Maserati und Ferrari doch versuchten.

Die Formel 1 hatte weniger Berührungsängste mit den Steilkurven. Zwischen 1955 und 1961 fuhr sie viermal in Monza - obwohl zwischenzeitlich Italiens Nationalheld Alberto Ascari sein Leben ließ. Erst als Wolfgang Graf Berghe von Trips in der Parabolica-Kurve starb, wurde das Tempo zu heikel. Im Hollywood-Film "Grand Prix" gab die "Curva sopraelevata" ihre Abschiedsvorstellung.

Heute wirkt sie aus der Ferne - umgeben von sattem Grün und dem Duft von nassem Wald - friedlich. Ich kraxele auf ein Mäucherchen neben der Straße, schlage mich zwischen Ästen durch und bahne mir den Weg auf einen Hügel. Einige Meter weiter ist der Zaun niedergetrampelt. Yeah!

Meine Chance. Noch ein paar Schritte und ich stehe direkt an der Steilkurve. Oder besser gesagt: an der Wand. Vom Scheitelpunkt aus baut sich das Monstrum vor mir auf wie ein massiver Betonklotz.

Ich mache einen ersten Schritt auf die Strecke und ertappe mich dabei, dass ich nach links und nach rechts blicke, um sicherzugehen, dass kein Nuvolari oder Caracciola angerast kommt. Bis zu der gelben Markierung, die bei der Wiederaufbereitung der Steilkurven vor einigen Jahren aufgetragen worden ist, ist es aufwendig, aber ich kann auf der Strecke laufen. Danach beginnt das Bergsteigen.

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Fast ein Spagat notwendig: Wer die Steilkurve erklimmen will, muss kraxeln Zoom Download

Obwohl es trocken ist, rutsche ich mit den profilierten Sohlen meiner Turnschuhe von der Betonfläche. Ich nehme Anlauf und versuche, mit Tempo in Richtung der hauchdünnen Leitplanke am oberen Rand der Steilkurve zu kommen. Auf dem letzten Metern muss ich mich mit den Händen abstützen und spüre die tiefen Fissuren im Fahrbahnbelag. Er fühlt sich an wie ein Schleifstein für Küchenmesser.

Als ich mit der Hand das kühle Metall der Leitplanke greife, sind meine Fußgelenke abgeknickt. Trotzdem bin ich fast nur mit den Zehenspitzen am Boden. Dass hier vor fast einem Jahrhundert Rennautos mit über 160 km/h bewegt wurden, ist unvorstellbar. Um nicht zu sagen: Selbstmord.

Als ich mich oben einigermaßen sicher festgekrallt habe, blicke ich zaghaft über die Brüstung und sehe, dass hinter der Steilkurve das Nirgendwo lauert. Wer hier abgeflogen ist, hat bestenfalls einen Baum getroffen und schlimmstenfalls den Ortspfarrer von Lesmo, um die letzte Ölung zu erhalten.

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Gut festhalten: Stehen ist am oberen Rand der Steilkurve unmöglich Zoom Download

Ich stelle mich langsam auf meine Schuhsohlen, um die Steilkurve runterzurutschen, doch ich kann nicht anders als - getrieben von der Schwerkraft - zu sprinten. Nochmals streife ich mit meiner Hand den rauen Beton und bremse auf der Wiese. Geschafft. Ich habe das alte Monza überlebt.

Als ich zurück durch das Waldstück gekraxelt bin, vom Mäuerchen hüpfe und wieder auf der Straße stehe, wartet schon ein italienischer Security-Mann mit strafendem Blick. Ich bin froh, dass wir das Jahr 2018 schreiben und es nicht der Geistliche ist, der das Vater Unser aufsagt.

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