Formel-1-Historie: Die Evolution des Boxenstopps

Heutzutage ist ein Formel-1-Boxenstopp bis ins kleinste Detail choreographiert, doch bis es soweit war, leistete insbesondere ein Team revolutionäre Entwicklungsarbeit

von Juliane Ziegengeist · 15.01.2017 10:11

(Motorsport-Total.com) - In der Formel 1 zählt nicht nur auf der Strecke jede Hundertstelsekunde. Auch an de Box ist Schnelligkeit oberstes Gebot. Da muss jeder Handgriff sitzen, jedes Detail stimmen, um die Standzeit so gering wie möglich zu halten. Zwar lässt sich mit einem perfekten Boxenstopp nicht zwangsläufig ein Rennen gewinnen, mit einem verkorksten Stopp wohl aber eines verlieren. Deshalb arbeiten die Teams akribisch daran, die Abläufe zu perfektionieren.

Red Bull unterbot 2013 bei einem Grand Prix erstmals die Zwei-Sekunden-Marke

Und das mit Erfolg: Beim Großen Preis von Europa in Baku knackte Williams beim Boxenstopp von Felipe Massa die magische Zwei-Sekunden-Marke und stellte mit 1,92 Sekunden Standzeit des bisherigen Rekord von Red Bull ein. Das Team war im Jahr 2013 in Austin erstmals überhaupt unter zwei Sekunden geblieben. Noch schneller als Red Bull und Williams war nach eigenen Angaben nur Mercedes.

Dem Weltmeisterteam gelang beim Großen Preis von Ungarn 2016 der schnellste je in der Königsklasse gemessene Reifenwechsel-Boxenstopp. Damals dauerte Nico Rosbergs Boxenstopp in der 17. Runde lediglich 1,73 Sekunden. Allerdings beruht dieser Wert auf einer internen Messung. Laut offizieller Messung der FOM dauerte der Boxenstopp 2,15 Sekunden, weshalb er in den Rekordlisten nicht auftaucht.

Boxenstopp-Genie Gordon Murray: "Reine Mathematik"

Von derlei Bestwerten war man in den ersten Jahrzehnten der Formel 1 selbstredend weit entfernt. "In den 60er und 70er Jahren gab es Boxenstopps im eigentlichen Sinne noch gar nicht. Damals kamen die Fahrer an die Box, um etwas am Auto reparieren zu lassen. Strategische Boxenstopps, wie wir sie heute kennen, nahmen erst in der 80er Jahren ihren Anfang", erklärt Gordon Murray in der Dokumentation "Gone in 2 Seconds".

The History Of The Pit Stop: Gone In Two Seconds (Trailer)

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Der ehemalige Rennwagen-Konstrukteur und das Brabham-Team (1962-1992) waren die ersten, die Boxenstopps als Mittel im Kampf um den Sieg begriffen und auch praktizierten. "Das war reine Mathematik", sagt Murray heute. Erster Ansatzpunkt war für ihn das Gewicht des Autos: "Ein Pfund weniger Gewicht machte dich um etwa eine Hundertstel schneller." Deshalb suchte er nach Möglichkeiten, das Gewicht zu reduzieren.

"Das Benzin machte einen hohen Prozentsatz des Gesamtgewichtes aus. Wenn man das halbieren könnte und damit auf die Runde gerechnet x-mal so schnell wäre, könnte man zur Hälfte des Rennens für einen wirklich effizienten Stopp an die Box kommen und so das Rennen gewinnen", so Murrays Berechnungen, der wusste, dass sich das verbunden mit einem Reifenwechsel doppelt auszahlen würde.

Brands Hatch 1982: Brabham revolutioniert Reifenwechsel

"Uns war klar, dass die Reifen abbauen und neue Reifen in den ersten paar Runden ein bis zwei Sekunden schneller waren." Doch um wirklich Zeit gutmachen zu können, ging das Nachtanken noch nicht schnell genug. Es brauchte zu viele Runden, bis die neuen Reifen auf Temperatur kamen. Und auch der Stopp an sich - Wagen anheben, Reifen wechseln, Wagen sicher herunterlassen, dauerte noch zu lang.

Fotostrecke: "Black Jack": Die Karriere des Jack Brabham

"Wir haben daher Videoaufnahmen von frühen Stopps gemacht, sie mit dem Team angeschaut und jede Operation des Reifenwechsels analysiert, um zu sehen, wie es schneller geht", blickt Murray zurück. Daraufhin wurden neue Schlagschrauber designt, Mutter und Nabe generalüberholt. Für das schnelle und sichere Anheben des Wagens entwickelte man besonders leichte Wagenheber aus Titanium.

1982 wurde der Große Preis von Großbritannien in Brands Hatch zum Testlauf. Dorthin hatte Brabham auch eine Art Reifenofen mitgebracht, um die Pneus bereits vor dem Aufziehen auf die richtige Betriebstemperatur zu erhitzen. Zudem war am Kraftstoff-Einlass gearbeitet worden, um die Befüllung zu beschleunigen. Keine ungefährliche Angelegenheit, schließlich barg das Nachtanken die größte Gefahr an der Box.

Murray: "Es hat die Formel 1 für immer verändert"

Laut Murrays Kalkulationen durfte der Stopp samt Boxenein- und ausfahrt nicht langer als 26 Sekunden dauern, um sich zu lohnen: "Wenn wir mit dem Weg in die Box, dem eigentlichen Stopp und der Boxenausfahrt unter 26 Sekunden bleiben würden, würden wir jedes Rennen gewinnen." Tatsächlich sollten sich Brabhams neuartige Boxenstopps spätestens 1983 als "Goliathbezwingung" für das kleine Team erweisen.

Es gewann damit nicht nur die Fahrer-WM 1983, sondern revolutionierte die Formel 1. Andere Teams adaptierten Boxenstopps als strategisches Element. Das blieben sie auch nach Einführung des Tankverbots 1984. "Es hat die Formel 1 für immer verändert. Reifenstrategie, Berechnungen, Undercut, all das gäbe es sonst nicht", sagt Design-Genie Murray. Auch wenn es heute mitunter anderen Zwecken dient.

"Damals ging es allein darum, sich einen Vorteil zu verschaffen. Heutzutage ist das anders. Es ist etwas, um die Rennen interessanter zu machen. Die Veranstalter führen Elemente ein, die die Spannung zurückbringen, wie zum Beispiel das DRS oder eben strategische Boxenstopps." Mittlerweile haben sie alle Teams perfektioniert, auch wenn Red Bull seit dem 2013er-Rekord als eine Art Maßstab gilt.

Red-Bull-Teammanager Jonathan Wheatley weiß, worauf es ankommt, um so gut zu werden. "Wenn der Fahrer nicht genau dort parkt, wo er soll, wird der Stopp nicht funktionieren. Wenn die Crew nicht fit und stressresisent ist, dann ebenso wenig. Auch nicht, wenn das Autodesign seltsam ist", erklärt er im Gespräch mit David Coulthard für die Doku "Gone in 2 Seconds". Mensch und Maschine müssten perfekt harmonieren.

"Das Schwierige ist, dass Auto so designen, dass der Boxenstopp nicht darunter leidet. Dafür willst du aber natürlich auch keine Abstriche bei der Performance machen. Damit gehen die Team durchaus unterschiedlich um", so Wheatleys Einschätzung. Wie Brabham in den 80er Jahren sei Red Bull 2009/10 in die Detailanalyse seiner Boxenstopps gegangen, um diese zu optimieren und als Erfolgskriterium zu etablieren.

"Wir haben einen massiven Schritt nach vorne gemacht im Vergleich der Nachtank-Ära zu den modernen Standards von heute. Damals haben wir nicht wirklich nach den anderen geschaut, weil kaum jemand an uns ran kam. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert, als McLaren und auch Williams angezogen haben", sagt Wheatley. Um eine Rekordjagd ginge es dabei aber nicht.

Red-Bull-Teammanager setzt auf Konstanz statt Rekorde

So sieht es der Red-Bull-Manager lieber, "wenn ein Auto 2,5 Sekunden an der Box steht und das ein ums andere Rennen, als hin und wieder einen 2,1- oder 1,9-Sekunden-Stopp zu haben und sonst bei 3,6 oder 3,8 Sekunden zu liegen, weil Leute es zu sehr versuchen". Zwar sei ein Rekord schön und gut, auf lange Sicht aber komme es auch die Konstanz an - und auf eine gesunde Balance zwischen Risiko und Belohung.

"Und das sage ich als jemand, dessen Team in der Boxengasse schon Reifen verloren hat", räumt Wheatley ein. Was die Standzeit angeht, ist das Maximum laut ihm nahezu ausgereizt. "Natürlich könnte man viel Geld für ein neues System zur Radbefestigung ausgeben, aber das würde dann womöglich an anderer Stelle fehlen und das Auto wäre auf der Strecke nicht mehr so schnell", gibt es zu bedenken.

Auch Roboter könnten zum Einsatz kommen. "Aber was wird dann aus dem Sport?", fragt Wheatley. Er ist der Ansicht, dass Boxenstopps eine menschliche Aktion bleiben sollten. Für ihn sei der Jubel seiner Crew nach einem gelungenen Stopp noch immer der größte Lohn. Um das zu erreichen, helfen Stresstests und viel Training. "Letztlich geht es aber vor allem darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie sich wohlfühlen", erklärt er.