Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Heißer Kandidat Nico Rosberg, "Sieger" Kimi Räikkönen: Warum der Ferrari-Pilot nach Ungarn am Freitag vielleicht sogar noch einmal schlecht schlafen wird
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
wie jeden Montag nach einem Formel-1-Rennen fragen wir uns, wer letzte Nacht wohl am schlechtesten geschlafen hat. Ich schlage mich dafür nach dem Grand Prix von Ungarn ausnahmsweise selbst vor. Denn auf der gut fünfstündigen Fahrt von Budapest nach Hause, quer durch den Osten Österreichs, habe ich mich wieder einmal tierisch über meine österreichischen Landsleute geärgert.
Da stehen viele beim Thema Ausländerfeindlichkeit ebenso grundlos rechts, wie sie auf der Autobahn grundlos links fahren. Kein anderes Land, in dem ich je Auto gefahren bin, ignoriert das Rechtsfahrgebot so konsequent wie Österreich. Aber Schwamm drüber. So schlecht geschlafen habe ich trotzdem nicht - eher zu kurz: Um 20:00 Uhr vom Hungaroring losgefahren, um 7:00 Uhr schon wieder auf der Matte stehen. Manche stellen sich das Leben eines Formel-1-Journalisten glamouröser vor, als es in Wirklichkeit ist.
Schlechtestes Saisonrennen für Mercedes
Dann hat Toto Wolff vermutlich schlecht geschlafen. Nicht, weil er ebenfalls mit dem Auto zurück nach Wien gefahren ist und sich über die Rechtsfahrdisziplin unserer Landsleute ärgern musste, sondern weil Mercedes den schlechtesten Auftritt seit langem abgeliefert hat. Sicher, der Speed ist nach wie vor da - ohne die verpatzten Starts hätten die Silberpfeile in Budapest ebenso dominiert wie in Silverstone. Aber die Fahrer haben sich gestern nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Lewis Hamilton empfand es nach seiner anfängerhaften Darbietung sogar angemessen, sich zu entschuldigen. Start verpatzt, obwohl er auf der sauberen Seite stand, völlig haltloses Meckern gegen Nico Rosberg wegen seines Zwischenfalls in der ersten Runde, neben die Strecke gefahren, später a la Pastor Crashdonado in den Red Bull von Daniel Ricciardo reingerutscht - das konnte der Ungarn-Spezialist auch mit seinem an Konsequenz nicht zu überbietenden, atemberaubenden Überholmanöver außen vorbei an Valtteri Bottas in der ersten Kurve nicht kaschieren.
Und Nico Rosberg kann auch keine ruhige Nacht gehabt haben. Schon das ganze Jahr redet er davon, dass es nur ein schlechtes Rennen seines Teamkollegen braucht, um den Punkterückstand wettzumachen. Gestern hatte er diese Chance. Die kommt nicht oft. Zwischendurch führte er "virtuell" schon die WM-Tabelle an, hatte er sogar Chancen, das Rennen zu gewinnen. Aber das hat er sich zuerst damit vermasselt, ebenso konsequent wie selbstbewusst die falschen Reifen zu fordern, und später damit, dass er sich an Ricciardos Frontflügel den linken Hinterreifen aufschlitzte.
Rosberg diesmal nicht zu verteidigen
Dies ist eine Kolumne, und in einer Kolumne geht es bekanntlich um Meinung. Ganz subjektiv. Ich bekenne mich dazu, Nico-Rosberg-Fan zu sein. Ich mag ihn, ich halte ihn für intelligent, finde ihn sympathisch. Aber - sorry, Nico - wie er gestern mit seiner Leistung zufrieden sein konnte, ist mir ein Rätsel.
Ein Wechsel der WM-Führung wäre völlig ungerecht gewesen, denn während Hamilton den Speed in den besseren Phasen seines verkorksten Rennens jederzeit aufdrehen konnte, war Rosberg einfach deutlich zu langsam. Punkt. Aus welchen Gründen auch immer. Und das ist kein gutes Zeichen für die zweite Saisonhälfte. Aber ich habe ja schon nach Austin 2014 geschrieben, dass Rosberg wohl nie mehr Weltmeister wird. So leid es mir tut, diese Einschätzung treffen zu müssen.
Ungarn: Halber Heim-Grand-Prix der Finnen
Doch wir können für unsere Montags-Kolumne nicht jedes Mal Nico Rosberg auswählen. Also haben wir uns diesmal für Kimi Räikkönen entschieden. Das dürfen unsere Leser kontrovers diskutieren. Da liefert der "Iceman" ausgerechnet im brennheißen Ungarn, vor zehntausenden finnischen Landsleuten (inklusive dem sympathischen Journalisten Heikki Kulta, der das Rennen seit Jahren kurzerhand zum Finnland-Grand-Prix schreibt), seine beste Leistung seit langem ab, und dann macht ihm das Hybridsystem einen Strich durch die Rechnung.
In den ersten 21 Runden bis zu Sebastian Vettels Boxenstopp handelte sich Räikkönen gerade mal 2,7 Sekunden Rückstand ein. Heißt: Er war pro Runde nur um eine Zehntelsekunde langsamer als sein Teamkollege. Fast nichts. Heißt auch: Räikkönen hat das schnell Autofahren noch nicht verlernt, wie Technikchef James Allison ohnehin schon lange vermutet. Aber am Ende stand dann doch wieder eine Null zu Buche, während Vettel seinen zweiten Ferrari-Sieg feiern durfte. In der Fahrer-WM steht es jetzt aus Sicht von Räikkönen 76:160.
Mein Kollege Dieter Rencken hat Valtteri Bottas nach dem Rennen gefragt, ob es ihm besser gehen würde, wenn Räikkönen in Ungarn eine weitere schlechte Leistung abgeliefert hätte. Weil Bottas laut italienischen Medienberichten schon so gut wie sicher im Ferrari-Cockpit 2016 sitzen soll. Aber das widerspricht unseren Informationen. Die besagen nämlich, dass Ferrari am liebsten Max Verstappen haben möchte. Den gibt's aber erst ab 2017, und für ein Übergangsjahr mit Bottas überweist man keine Millionsumme an Williams. Also gilt als wahrscheinlich, dass Räikkönen doch noch ein (letztes) Jahr in Maranello bleiben darf.
Droht noch eine schlechte Nacht?
Aber weil das momentan noch kein finaler Beschluss, sondern nur die Planung von FIAT-Chef Sergio Marchionne ist, von der Räikkönen selbst offenbar noch gar nichts weiß, könnte der Finne gestern trotzdem schlecht geschlafen haben. Schließlich muss sein Gedanke gewesen sein: Endlich mal ein gutes Rennen, in einer für meine Zukunft heiklen Phase - und dann wird es mir wieder aus den Händen gerissen.
Übrigens: Vielleicht schläft Räikkönen in der Nacht von Freitag auf Samstag noch einmal schlecht. Denn bis 31. Juli hat Ferrari Zeit, die Vertragsoption auf ihn zu ziehen und ihn zu den vereinbarten Konditionen 2016 weiterzubeschäftigen. Gut möglich, dass diese Frist verstreichen wird. Denn selbst wenn man an Räikkönen festhalten sollte (was Stand heute wahrscheinlicher ist als noch vor ein paar Tagen), möchte Ferrari die finanziellen Rahmenbedingungen neu verhandeln. Weil die Teamführung angesichts der bisherigen Ergebnisse argumentieren kann: Mehr als 20 Millionen, lieber Kimi, bist du nicht mehr wert...
Ihr
Christian Nimmervoll
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