• 31. Dezember 2014 · 08:46 Uhr

Sebastian Vettels 2014: Der Bär ist gesättigt

Kolumne von Chefredakteur Christian Nimmervoll über den Unterschied zwischen dem Sebastian Vettel von September 2010 und dem Sebastian Vettel von 2014

(Motorsport-Total.com) - 11. Februar 2014, Werbespotdreh des Reifenhändlers Tirendo im österreichischen Dornbirn. Von den tausenden Menschen, die an diesem Tag in der beschaulichen Stadt in Vorarlberg, unweit der Schweizer Grenze, einkaufen gehen, haben wohl nur die wenigsten eine Ahnung davon, dass ein paar hundert Meter weiter der amtierende Formel-1-Weltmeister in einem kleinen Wohnwagen sitzt und sich in einer Drehpause grinsend beschwert, dass er eine mit Butter beschmierte Brezel nicht essen kann, "weil mich Adrian (Newey; Anm. d. Red.) sonst wieder aufs Laufband schickt".

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Sebastian Vettel verlässt Red Bull nach dem erfolglosen Jahr 2014 in Richtung Ferrari Zoom Download

Sebastian Vettel ist gut drauf, macht Witze. Er regelt den Ärger einer Kindergärtnerin, weil ein TV-Team für ein Interview kurzerhand einen Raum beschlagnahmt hat, indem er ein rotes Bobby-Car für die Kids signiert. Er lacht viel. Dabei hat er eigentlich keinen Grund dazu. Beim ersten Wintertest hat er gerade mal acht Runden geschafft - und es zeichnet sich ab: Der RB10 ist kein Auto, mit dem er seinen fünften WM-Titel gewinnen wird. Aber am 11. Februar 2014 in Dornbirn lässt er diese Sorgen für einen Tag hinter sich.

Ich selbst habe Sebastian in den vergangenen vier Jahren zwar immer mal wieder bei offenen Medienterminen getroffen, unter vier Augen sind wir uns aber zuletzt im September 2010 begegnet. "Da warst du noch kein Weltmeister", erinnere ich ihn. "Kommt mir gar nicht so lang vor", antwortet er. Vier WM-Titel später habe ich das Gefühl: Hier sitzt ein ganz anderer Mensch vor mir als damals.

Ein angeschossener Bär kämpft am wildesten

Der Sebastian Vettel von 2010 hatte den Hunger eines wilden Bären, angestachelt von der WM-Niederlage 2009, die für viele Beobachter gar keine war, die er selbst aber als solche empfunden hat. Er dürstete nach Siegen, ging dafür keine Kompromisse ein, spielte Psychokrieg mit seinem Teamkollegen Mark Webber. Wurde der Bär angeschossen (oder fühlte er sich nur so als ob), rannte man besser um sein Leben. An jenem Tag in Monza war mir klar: Hier sitzt der angehende Weltmeister. Obwohl er in der Fahrerwertung 31 Punkte Rückstand auf Lewis Hamilton hatte.


Making of Tirendo-Spot in Dornbirn

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Der Sebastian Vettel von 2014 ist mir, rein persönlich gesprochen, noch sympathischer. NOCH sympathischer deshalb, weil ich ihn immer schon sympathisch gefunden habe. Der nette Kerl von nebenan, idealer Schwiegersohn, gut erzogen und immer für einen smarten Witz gut. Intelligenter Bursche, bodenständig geblieben, aber auch nicht naiv. So war er schon immer - schon als ich ihn als sein Ghostwriter für die Website-Kolumnen im legendären Formel-BMW-Jahr 2004 (18 Siege in 20 Rennen) kennenlernen durfte.

Sebastian ist Vater geworden, und Vater zu werden, verrückt die Perspektiven eines Menschen. Plötzlich ist nicht mehr am wichtigsten, bis in die frühen Morgenstunden entschlossen in der Fabrik zu hocken, obwohl man eigentlich längst abkömmlich wäre, sondern man will auch mal zwei Stunden früher nach Hause fliegen - zum Wichtigsten, was man im Leben geschaffen hat. Mit dem Strahlen eines kleinen Mädchens kann auch das Funkeln eines WM-Pokals auf dem Küchentisch nicht mithalten.

Prioritäten im Leben haben sich verschoben

Ich glaube nicht, dass Sebastian durch seine Tochter um eine Sekunde langsamer geworden ist, wie es Nigel Mansell früher immer befürchtet hat. Und ich glaube auch nicht, dass er das Rennfahren verlernt hat. Aber ich glaube, dass er 2014 gesättigt war. Der erfolgshungrige Bär in ihm hatte in den vergangenen vier Jahren genug zu essen. Er langt vielleicht noch zu, wenn man ihm den Lachs fix und fertig auf einem Spieß hinlegt, aber er tut sich den Aufwand nicht mehr an, dafür stundenlang im eiskalten Wasser zu jagen.


Fotostrecke: Vettels Weg zu Ferrari

Der Bär ist Stand Februar 2014 "in mancher Hinsicht gelassener, kann die Dinge ein bisschen besser einordnen", sagt er selbst. "Ich denke, der erste WM-Titel hat da doch - im Nachhinein kann man das so sagen - ein bisschen mehr Ruhe reingebracht. Was jetzt nicht heißt, dass man nicht mehr die Motivation hat. Aber man kann das Ganze einfach etwas gelassener angehen. Routine ist ein gutes Wort. Vieles wiederholt sich ja, Abläufe wiederholen sich, man kennt die Leute noch besser."

Zehn Monate nach diesem Interview ist Sebastian Vettel immer noch viermaliger Weltmeister und immer noch 39-facher Grand-Prix-Sieger. Er hat das Qualifying-Stallduell gegen Daniel Ricciardo mit 7:11 und nach Punkten mit 167:238 verloren, nach Siegen sogar mit 0:3. Und es gab trotzdem keine Neuauflage von Istanbul 2010 oder Sepang 2013, keine Stinkefinger, keinen Neid auf den Teamkollegen, obwohl sich eigentlich jedes Erfolgslächeln des Sonnyboys wie ein Nadelstich im Bärenfell anfühlen müsste.

Im Jahr 2014 zu verlieren gelernt

Der Sebastian Vettel von 2014 hat zu verlieren gelernt. Was ihn menschlich sehr sympathisch macht - aber zu einem etwas weniger erfolgreichen Rennfahrer.

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Sebastian Vettel bei seinem ersten Test in einem modernen Formel-1-Ferrari Zoom Download

Dauerhaft? Vermutlich nicht. Denn der Bär hat jetzt ein Jahr lang keinen Lachs gegessen, und er trägt 2015 ein neues (rotes) Fell. Ferrari war schon immer Sebastians Kindheitstraum. Die Beziehung zu Red Bull ist träge geworden, wie das unweigerlich der Fall ist, wenn man über Jahre hinweg alles gewinnt, was es zu gewinnen gibt. Es braucht die neue Herausforderung - oder: Neue Besen kehren gut. So gesehen war das Jahr 2014 für Sebastians weitere Karriere wahrscheinlich genau das Richtige. Einmal kurz durchatmen, neue Kraft und Motivation tanken, dann geht's wieder!

Vielleicht noch nicht 2015, aber früher oder später müssen sich die Lachse vor dem Bären aus Heppenheim wieder fürchten. Der Hunger kommt bestimmt zurück. Die Krallen sind schon ausgefahren...

Christian Nimmervoll

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