• 03. Oktober 2016 · 05:16 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

"Oh no, no!": Lewis Hamilton hat in Malaysia das Rennen verloren, aber Sympathien gewonnen - Warum Nico Rosberg ein gerechter Weltmeister 2016 wäre

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,

vielleicht ist es an der Zeit, einmal die Mechanismen dieser Kolumne zu erklären.

Im Winter 2013/14 haben mein Kollege Roman Wittemeier und ich dieses Format entwickelt, als es darum ging, unsere damals eingerostete Standard-Berichterstattung rund um die Grands Prix aufzupeppen. Einfach einen "Man of the Race" zu küren, schien uns zu langweilig; die Idee, einen Verlierer des Wochenendes auszuwählen und, gelegentlich auch augenzwinkernd, durch den Kakao zu ziehen, gefiel uns wesentlich besser. Und weil wir uns nicht zwangsläufig auf einen Fahrer festnageln lassen wollten, passte "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" perfekt. Denn das kann im Grunde jeder sein und nicht nur einer, der am Vortag ein schlechtes Rennen hatte.

Den kreativen Spielraum, den dieses Format bietet, bemühen wir uns normalerweise auszuschöpfen. Wobei "uns" in diesem Fall "ich" bedeutet. Bevor ich jeden Montagmorgen beginne, in die Tasten zu hämmern, hole ich mir sehr wohl Input von meinen Kollegen, gelegentlich auch von meinen Twitter-Followern; aber letztendlich steht mein Name über meiner subjektiven Meinung in der von mir unterschriebenen Kolumne, also treffe ich die Entscheidungen.

Hamilton der tragische Held des Rennens

Es ist mir normalerweise stets ein Anliegen, über die offensichtlichen Kandidaten hinaus zu denken und die Leser dann und wann mit einem originellen Gedankenansatz zu überraschen. Diesmal verkneife ich mir das. Nach dem Grand Prix von Malaysia kann nur einer am schlechtesten geschlafen haben: Lewis Hamilton.

Ich gebe zu (regelmäßige Leser wissen das inzwischen): Nico Rosberg ist mir menschlich näher als Hamilton. Ich konnte mich schon in meiner Jugend eher für John Bon Jovi erwärmen als für Snoop Doggy Dog (Let the Bashing begin!), und bis heute mag ich keine selbstdarstellerischen Pseudo-Hip-Hopper. Das heißt nicht, dass ich die Leistungen von Hamilton nicht anerkenne. Auf der Rennstrecke halte ich ihn für grenzenlos begabt, fast wie einst der große Ayrton Senna (Let the Bashing continue!).

Und ganz egal, ob man ihn nun mag oder nicht: Als Hamilton gestern "Oh no, no!" in den Boxenfunk schluchzte, musste er einem leid tun. Es war einer jener seltenen Momente, in dem wir ihn so wahrnehmen konnten, wie er im tiefsten Inneren immer noch ist, nämlich als echten Racer im Herzen. Der Schmerz, der in seiner Stimme lag, der war authentisch, und dass Toto Wolff zeitgleich in der Garage in sich zusammensackte, unterstrich die Unbarmherzigkeit jenes Moments.

Niemals vorher T-Shirts drucken!

Ausgerechnet in Malaysia, dem Heimatland des größten Teampartners Petronas, passiert so etwas! Wolff wollte eigentlich bis Dienstag in Kuala Lumpur bleiben und in den Petronas-Towers seine erste Pressekonferenz als Konstrukteurs-Weltmeister geben. Jetzt hat er eine Lektion gelernt, die einst auch Willi Weber lernen musste: Niemals vor der tatsächlichen Entscheidung die Weltmeister-T-Shirts drucken lassen und niemals vorher eine Titelparty buchen!

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Tapfer: Lewis Hamilton kommt zurück zur Box und winkt den malaysischen Fans Zoom Download

Hamilton wiederum wusste mit seiner Enttäuschung im ersten Moment nicht umzugehen. Als er zurück an die Box kam, winkte er zwar artig den malaysischen Fans zu und wirkte den Umständen entsprechend tapfer; als er jedoch später die ersten TV-Interviews von sich gab, schenkte er der Journaille mit wirren Verschwörungstheorien kontroverse und klickträchtige Schlagzeilen.

Nach einem klärenden Gespräch mit Wolff - manche würden sagen: nach einer Kopfwäsche - klang das alles schon wieder ganz anders. Der "irgendjemand", der nicht will, dass er 2016 Weltmeister wird, sei weder Wolff noch Niki Lauda noch Dieter Zetsche, sondern "eine höhere Macht", und er habe natürlich vollstes Vertrauen in sein Team. Wolff nahm Hamilton indes in Schutz: Nach einer so emotionalen Niederlage dürfe ein Rennfahrer alles sagen, auch Unkluges.

Ich stimme zu.

Das Selbstvertrauen beginnt zu wackeln

Aber auch wenn die Kommentare sicher nicht bösartig gemeint waren, so zeigen sie doch etwas anderes: Lewis Hamilton, dem talentiertesten Fahrer im Formel-1-Feld, steht das Wasser bis zum Hals. Als er nach vier Rennen schon 43 Punkte Rückstand hatte, war er zwar nicht happy, aber er strahlte das grenzenlose Selbstvertrauen aus, das noch hinbiegen zu können. Weil er innerlich genau weiß: "Ich habe mehr Talent als Nico!"

Selbst als Rosberg nach der Sommerpause wieder zu gewinnen anfing, in Spa-Francorchamps und in Monza, hatte Hamilton (zurecht) das Gefühl, als schnellerer Fahrer verloren zu haben. Alles easy. Singapur tat da schon mehr weh, denn da war Rosberg tatsächlich unwiderstehlich. Aber immer noch machte Hamilton nicht den Eindruck, als sei er besonders besorgt, 2016 möglicherweise nicht Weltmeister werden zu können.

Als er gestern "Oh no, no!" in den Funk schluchzte, war das anders.

Ich habe in dem Moment gehört: einen zutiefst menschlichen Rennfahrer, für den Racing und Gewinnen trotz aller Hollywood-Schickeria immer noch das Größte ist. Das hat mich ein bisschen an jenen Lewis Hamilton erinnert, den ich früher einmal so bewundert habe, als er unbekümmert und bodenständig aus der GP2 kam und noch ausschließlich mit seinem Talent zu beeindrucken versuchte und nicht mit Goldgeklimper und pseudo-männlichen Snapchat-Fotos.

Mehr Menschlichkeit und Emotion, bitte!

Hamilton hat gestern gezeigt, dass er unter seiner aufgesetzten Schale immer noch ein verletzlicher junger Mann ist, und das ist gut so. Das Mercedes-Team hat in Malaysia die Konstrukteurs-WM (vorläufig) verloren - aber viele Sympathien gewonnen. Nahbarkeit, Verletzlichkeit, Emotion, das ist menschlich - und Menschliches gefällt den Menschen. Mir auch.

23 Punkte sind nicht so viel, wie es aussieht. Wenn Rosberg nur einen Teil von Hamiltons Technikpech hat und auch mal eine Null anschreibt, ist die Wende auch schon vollzogen. Das wäre sportlich gesehen vielleicht gerecht, rein auf die Saison 2016 bezogen.

"2:1 WM-Titel hingegen, das kommt ganz gut hin."
Im größeren Kontext ist es vielleicht ganz okay, wenn sich die Gerechtigkeit 2016 nicht mehr ausgleicht. Ja, Hamilton ist der talentiertere Mercedes-Fahrer, aber wenn er dreimal Weltmeister wird und Rosberg gar nie, würde das keiner gerechten Bewertung der sportlichen Leistungen in gemeinsamen Jahren der Mercedes-Dominanz entsprechen.

2:1 WM-Titel hingegen, das kommt ganz gut hin.

Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:

Derek Warwick: Wir nehmen den ehemaligen Formel-1-Fahrer stellvertretend auch für seine Kollegen Steve Chopping, Tim Mayer und James Leong Weng Hoong, die Rennkommissare beim Grand Prix von Malaysia. Die Strafe für Sebastian Vettel, der tatsächlich übermotiviert in die erste Kurve geflogen ist, kann man noch irgendwie nachvollziehen, auch wenn sie sicherlich nicht bösartig motiviert und innerhalb gewisser Grenzen war und somit in der perfekten Welt als Rennunfall bewertet werden sollte; aber Rosbergs kleinen Rempler gegen Kimi Räikkönen zu bestrafen, das hat nichts mit knallhartem Motorsport zu tun, wie ihn die Fans sehen wollen. Erinnert sich eigentlich noch wer an die Vereinbarung, dass man ein bisschen mehr durchgehen lassen wollte, im Interesse des Racings? Offenbar nicht.


Nico Rosberg aus Sepang: "Vettel hat angerufen"

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Der Mercedes-Pilot erklärt seinen Malaysia-Grand-Prix, den Startcrash und sein Mitleid mit Teamkollege Lewis Hamilton Weitere Formel-1-Videos

Nico Rosberg: Es war eigentlich ein guter Tag für den WM-Leader. Vorsprung von acht auf 23 Punkte ausgebaut - das steht über allem. Ein dritter Platz hinter den beiden Red Bulls lässt ihn eher lächeln als ein zweiter hinter Erzrivale Hamilton, und das ist auch in Ordnung so. Schlecht geschlafen hat er aber aus einem ganz anderen Grund. Nicht wegen der Startkarambolage mit Vettel (der sich übrigens am Abend telefonisch entschuldigt hat), sondern vielmehr wegen Daniel Ricciardos Idee, man könne doch Champagner auch aus dem verschwitzten Siegerschuh trinken. Rosberg spielte mit, um kein Spielverderber zu sein - aber geschmeckt hat's ihm (sichtlich) nicht...


Jenson Button: Es klang Wehmut mit, als der McLaren-Fahrer in seinem 300. Formel-1-Rennen funkte, dass nächstes Jahr wohl alles gut wird. McLaren fährt plötzlich mit beiden Autos in die Punkte, auch wenn es mal nicht so gut läuft, und heimlich, still und leise hat Honda mit dem Antrieb so große Fortschritte gemacht, dass man vermuten muss: 2017 könnte McLaren wieder zum Kreis der Topteams gehören. Button scheint zu dämmern, dass dann seine harte Aufbauarbeit in den vergangenen Jahren zwar nicht umsonst war, aber andere davon profitieren werden. Dass er (trotz aller Beteuerungen) nicht daran geglaubt hat, dass es so schnell gehen würde, kann man ihm nicht übel nehmen.

Ihr Christian Nimmervoll

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