Lewis Hamilton im Interview: "Ich wurde als Kind schikaniert"
Im sehr persönlichen zweiten Teil erzählt Lewis Hamilton, wie ihn seine Kindheit geprägt hat und warum ihm die Pandemie mit ihrer Einsamkeit Angst macht
(Motorsport-Total.com) - Im ersten Teil des großen Interviews vor den letzten beiden Saisonrennen in Saudi-Arabien und Abu Dhabi hat Lewis Hamilton unter anderem über den schwierigen Start in die Saison 2021 gesprochen und seine Duelle mit Max Verstappen. Dieser erste Teil wurde am Samstag in voller Länge auf den Portalen von Motorsport Network Deutschland veröffentlicht.
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Jetzt gibt's auch den zweiten Teil nachzulesen, ebenfalls in ungekürzter Fassung. Und das Interview knüpft da an, wo das erste aufgehört hat: beim Verhältnis zu Verstappen. Warum es zwischen ihm und Verstappen eigentlich keine persönlichen Animositäten gibt, wollten die ausgewählten Journalisten, die zu dem Interview eingeladen waren, wissen.
Lewis Hamilton: "Ich kann nicht für ihn sprechen. Ich bin schon gegen Gegner gefahren, die haben nach außen ein bestimmtes Gesicht gezeigt, waren aber in Wahrheit ganz anders. Ich weiß nicht, ob das auf der anderen Seite vielleicht der Fall ist."
"Aber was mich betrifft: Ich bin 36 Jahre alt, ich mache das schon lang, also ist es nicht das erste Mal, dass ich mit einem Fahrer konfrontiert werde, der in gewisser Weise gut und schlecht ist. Ich denke, ich bin in einer viel besseren Position, um damit umzugehen - besonders im Rampenlicht und unter dem Druck des Sports."
"Ich weiß, dass er ein superschneller Kerl ist, und er wird mit der Zeit immer stärker werden, wenn er reifer wird. Das steht außer Zweifel. Schauen Sie mich an, als ich 24 oder 25 war. Meine Güte, was für Fehler ich damals gemacht habe!"
"Ich hatte den Speed, aber ich musste viele verschiedene Erfahrungen außerhalb des Autos erst machen. Ich stand plötzlich im Rampenlicht und unter dem Druck, vorne mitzufahren. Ich glaube nicht, dass ich damals viel richtig gemacht habe, also nehme ich das niemandem übel."
Fahrstil schon in der Kindheit geprägt worden
Frage: "Warum ist es Ihnen so wichtig, so sauber zu fahren? Viele große Champions waren da anders. Selbst Ihr Kindheitsidol Ayrton Senna. Aber Ihnen ist eine ethische Fahrweise so wichtig. Warum?"
Hamilton: "So hat mich mein Vater erzogen. Er hat gesagt, ich soll die Antwort immer auf der Rennstrecke geben. Ich wurde als Kind schikaniert, sowohl in der Schule als auch auf der Strecke, und wir wollten sie auf die richtige Art und Weise bezwingen, nicht indem ein Auto ausfällt oder durch eine Kollision. Dann können sie nicht abstreiten, dass man besser ist."
"Wenn es zu Kollisionen kommt, können sie sagen: 'Oh ja, aber das ist passiert, das ist eine Taktik, die dieser Fahrer hat.' Ich will der sauberste Fahrer sein, durch Geschwindigkeit, durch harte Arbeit und Entschlossenheit. So kann man am Ende nicht leugnen, was ich erreicht habe."
Frage: "Wie geht es eigentlich Ihrer Fitness? In Ungarn haben Sie ja gesagt, dass Sie die Folgen Ihrer COVID-19-Erkrankung noch spüren."
Hamilton: "Die erste Saisonhälfte war eine der schwierigsten, die ich je hatte. In Zukunft kann ich da vielleicht mehr drüber sagen, aber im Moment fühle ich mich so gut wie schon lang nicht mehr. Irgendwie ist es mir gelungen, das zu überstehen."
"Ich habe mich auf Regeneration und Training konzentriert, habe neue Atemtechniken erlernt. Kürzlich war ich wieder mal laufen, und ich habe mich besser denn je gefühlt. In den letzten paar Rennen, von denen einige ziemlich heiß waren, konnte ich meinen Körper ein bisschen weiter ausreizen, weil ich gut trainiert habe. Seit der Sommerpause hatte ich in den Rennen eigentlich keine Probleme mehr. Dafür bin ich sehr dankbar. Gott sei Dank."
Frage: "2021 ist eine unglaubliche Saison mit einem Auf und Ab, auch neben der Strecke. Wie schwer fällt es da, sich nicht ablenken zu lassen?"
Hamilton: "Ziemlich leicht. Für mich sind Ablenkungen kein Problem. Ich bin schon lang dabei und weiß genau, was ich tun muss, um fokussiert zu bleiben. Ich verliere das ultimative Ziel im Motorsport nie aus den Augen. Und das ist nun mal, die WM zu gewinnen."
"Aber ich habe ein paar andere Dinge, die mir in ein gutes Gleichgewicht helfen. Mission 44 nimmt viel Zeit in Anspruch. Die Hamilton-Kommission nimmt viel Zeit in Anspruch. Diese Dinge helfen mir sogar, meinen Fokus zu schärfen, wenn ich die Arena wieder betrete. Wir hatten mit all diesen Dingen Höhen und Tiefen, aber es ist heute anders als früher, als ich sowas alles nicht hatte. Von daher ist die Situation für mich nichts Neues."
"Sinnstiftend": Das bedeutet die Hamilton-Kommission
Frage: "Helfen Ihnen Dinge wie die Hamilton-Kommission dabei, den Kopf freizubekommen?"
Hamilton: "Wenn du neben den Rennen Freizeit hast und dir überlegst, was du damit anstellen könntest, wofür du dich einsetzen willst, dann sind das manchmal Dinge, durch die du nichts zurückbekommst, die nicht nachhaltig wirken, die keinen Zweck erfüllen."
"Jetzt etwas gefunden zu haben, was sinnstiftend ist und das Potenzial hat, in unserer Branche für die Menschen, die darin arbeiten, wirklich etwas zu bewegen, das ist wahnsinnig befriedigend. So gesehen ist es toll, neben dem Rennfahren noch was zu haben, auf das ich mich konzentrieren kann. Das nimmt ein bisschen Druck weg."
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Frage: "Hat das auch dabei geholfen, sich weniger isoliert zu fühlen?"
Hamilton: "Weniger isoliert würde ich nicht sagen, nein. All diese Besprechungen finden immer noch auf Zoom statt, also bist du viel allein zu Hause und sitzt via Zoom im Meeting. Durch die Erfahrung aus dem Vorjahr gehe ich dieses Jahr schon etwas besser damit um, aber letztendlich lebe ich immer noch in Angst."
"Für die Menschen in meinem Umfeld, meine Freunde - vielleicht weniger in meinem Sport, aber außerhalb davon -, für die ist es nicht tragisch, mal einen Tag oder sogar eine Woche in der Arbeit zu fehlen. Da ist nicht gleich das ganze Jahr vorbei. Für uns Rennfahrer wäre das fatal. Wenn ich ein oder zwei Rennen verpasse, dann war's das."
"Ich habe kürzlich andere Sportler getroffen, die sind damit ziemlich gleichgültig umgegangen. Wenn sie es kriegen, dann kriegen sie's halt. Ich habe das als sehr merkwürdig empfunden. Aber wie gesagt, das macht es schwierig. Ich weiß nicht, wie es den anderen Fahrern damit geht. Ich denke mal genauso."
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Frage: "Waren die Vertragsverhandlungen dieses Jahr eine Ablenkung?"
Hamilton: "Wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich gar nicht mehr, was in meinem Kopf vorging, als ich die Entscheidung getroffen habe. Aber der Vertrag an sich war sehr reibungslos. Vielleicht sogar der reibungsloseste, den wir je gemacht haben. Das war diesmal kein Thema, das sich hingezogen hat, sondern es wurde kurz und knackig erledigt. Insofern habe ich es nicht als Ablenkung empfunden."
"Rennen wie zuletzt bestätigen dann, wie ich mich entschieden habe. Ich bin seit zehn Jahren in diesem Team, und einige meiner engsten Freunde haben mir kürzlich eine Nachricht geschickt: 'Du hast damit 2.000 Menschen inspiriert!' Und meine Antwort war: 'Shit, wenn ich es nach zehn Jahren immer noch schaffe, 2.000 Menschen zu inspirieren, dann weiß ich, dass ich etwas richtig gemacht habe und mir diesen Platz immer noch verdiene.' Das ist ein schönes Gefühl."
Frage: "Die Formel 1 ist kein leichtes Geschäft. Der Stress und der Druck sind enorm. Wo wird es schwierig, wenn die Intensität zunimmt, und was sind konkret die Zusatzbelastungen?"
Hamilton: "Du schaust dir die ganzen Details noch tiefer und genauer an, um Performance zu finden, die noch nicht entdeckt wurde. Ein Beispiel: Wenn die Karosserie wegen der Kühlung ein bisschen zu weit offen ist, verlierst du vielleicht 30 Millisekunden an Performance. Solche Dinge jagen wir dann. Ich bin da manchmal ziemlich hart zu den Jungs: 'Macht das verdammte Auto zu!'"
"Oder es könnten auch mal die vorderen Bremsscheiben zu heiß sein, oder der Reifendruck daneben, die Getriebeübersetzung. Du musst die Gänge so treffen, dass die Drehzahl am Start nicht in den Keller fällt. Und wenn du am Ende des Rennens noch vier Kilo Benzin im Tank hast, hast du auch eine Sekunde verschenkt."
"Das sind die Dinge, für die ich mehr Energie aufgewendet habe und bei denen ich dem Team mehr abverlange als früher. Weil wir jede Millisekunde brauchen - besonders auf den Strecken, auf denen wir Rückstand hatten. Es geht um die Details. Überall."
Noch kein Test im 2022er-Auto
Frage: "Einige Fahrer haben das 2022er-Auto bereits getestet, zumindest im Simulator. Werden das ganz andere Autos sein als die aktuellen?"
Hamilton: "Ich bin das Auto im Simulator noch nicht gefahren, weil ich mich voll und ganz auf diese WM konzentriere. Es ist auch so schon genug Arbeit. Aber ich stehe laufend in Kontakt mit dem Team. Selbst während der Rennen, zuletzt in Brasilien und auch schon davor, erkundige ich mich, wo wir mit dem Auto stehen und wie es mit den Dingen vorangeht, die ich mir für das Auto wünsche."
"Wenn ich zum Beispiel ein Problem mit dem Motor habe, sage ich, dass das bitte zu erledigen ist. Solche Unterhaltungen finden andauernd statt. Auch abseits der Strecke haben wir große Meetings mit 'Shov' (Andrew Shovlin, leitender Ingenieur an der Strecke; Anm. d. Red.), meistens Ende der Woche, wenn alle Daten beisammen sind. Ich habe ein Meeting mit 'Bono' (Peter Bonnington, Renningenieur; Anm. d. Red.), dann eins mit dem Team, das am nächstjährigen Auto arbeitet, einfach um rauszufinden, wo sie stehen."
"Ob die Aero eher nach vor oder nach hinten verlagert ist, mit welcher Bodenhöhe wir rechnen können, welche Probleme sie vorhersehen, welche Herausforderungen sie haben und wie das Auto voraussichtlich zu fahren sein wird. Aber derzeit werden die Fortschritte im Windkanal gemacht, und da bringt es nichts, das Auto zu testen. Da ist die Lernkurve im Windkanal einfach zu groß."
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Frage: "In den vergangenen Jahren haben Sie immer betont, wie froh Sie sind, dass Sie die Designrichtung lenken konnten, damit das Auto für Ihren Fahrstil passt. Wird das durch die Regeländerungen schwieriger?"
Hamilton: "Oh ja, definitiv. Wir wussten, dass wir Downforce verlieren werden. Als wir einmal rausgefunden hatten, wie viel, war das ganze Fahrverhalten total anders. Dabei hatten wir dafür so viele Jahre gearbeitet, um das Auto genau so hinzubekommen, wie es im Vorjahr war."
"Es ist ein Albtraum, wenn du mit den bisher bekannten Werkzeugen nicht mehr so spielen kannst, aber es ist, wie es ist. Wir suchen jetzt nach klugen Methoden, mit weniger Downforce auszukommen. Es gibt einige Elemente, die das schwieriger als je zuvor machen. Unser aktuelles Auto ist das am schwierigsten abzustimmende Auto. Darum verbringe ich so viel Zeit im Simulator."
"Aber selbst mit den Simulatortagen ist das so eine Sache. Manchmal ist der Simulator nicht so eingestellt, wie er sein sollte. Vielleicht passt das Gripniveau nicht oder der Wind, oder die thermischen Effekte passen nicht. Dann führen dich die Zahlen in die Irre. Man muss mit den Daten aufpassen, die man auf diese Weise erhält, und mit den Entscheidungen, die man auf Basis dieser Daten trifft. Es war eine echte Achterbahnfahrt."
Neuer Teamkollege ab der Saison 2022
Frage: "Ihr künftiger Teamkollege George Russell wird auch sicher etwas beweisen wollen. Rechnen Sie da mit einer anderen Qualität im teaminternen Duell?"
Hamilton: "Ich denke, man hat gesehen, wie respektvoll George ist. Er ist ein herausragend talentierter junger Mann, und ich finde, dass da bereits viel Respekt besteht. Im Moment passt das sehr gut."
"Aber er wird schnell sein wollen, er wird zeigen wollen, dass er gewinnen kann - all die Dinge, die man beweisen will, wenn man in ein neues Team kommt. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich in meinem ersten Jahr gegen Alonso gefahren bin. Ich wollte ihn auch gleich im ersten Rennen schlagen, und ich schätze, dass George die gleiche Mentalität haben wird. Sonst wäre er kein Siegertyp."
"Aber heute bin ich in einer ganz anderen Position. Ich wünsche mir, dass er erfolgreich ist. Es wird der Tag kommen, an dem ich in diesem Sport nicht mehr weitermache, und er ist mein Teamkollege und der nächste Brite, von dem ich hoffe, dass er Weltmeister wird. Natürlich hoffe ich, dass ich mich durchsetzen kann, solange wir auf der Rennstrecke gegeneinander antreten."
"Aber gleichzeitig hoffe ich, dass ich einen positiven Einfluss darauf habe, wie er sich ins Team einfügt, wie er mit den Ingenieuren arbeitet, wie er sich durch die Daten wühlt oder wie er auf der Strecke fährt. Ich bin mir sicher, dass ich ihm da mit meiner Erfahrung helfen kann."
Frage: "Sie hatten in der Formel 1 keine Vorbilder mit schwarzer Hautfarbe, also was hat Ihnen den Glauben gegeben, dass Sie anders sein, dass Sie es schaffen könnten?"
Hamilton: "Als ich jünger war, habe ich gar nicht daran denken müssen, dass ich anders bin. Ich kam an und wusste, dass ich anders bin, weil man mich das spüren hat lassen."
Frage: "Eher im Sinne von, dass Sie das schaffen können, was andere nicht geschafft haben ..."
Hamilton: "Das ist eine wirklich gute Frage. Ich schätze, ich hatte großes Glück, das einfach in meiner DNA zu tragen. Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich bin ein echter Kämpfer. Nicht nur auf der Strecke, auch im echten Leben."
"Ich wurde von vielen Kids gemobbt, aber ich habe zurückgekämpft. Ich laufe nicht weg. Du kommst ja nicht in der neuen Klasse an und denkst: 'Ich bin anders, also sollte ich anders behandelt werden.' Ganz egal, ob das der Fall ist oder nicht. Ich weiß auch nicht. Es fällt mir schwer, das zu beantworten."
"Ich habe Ayrton Senna gesehen, und ich sehe ihn nicht mit anderen Augen als mich selbst, obwohl er natürlich anders ist. Wie alle anderen Kids sehe ich Superman. Aber ich sehe nicht, dass Superman weiß ist und damit anders als ich. Ich sehe einfach einen fantastischen Charakter, der Menschen rettet."
"Aber wenn du älter wirst, rücken manche Dinge mehr ins Bewusstsein, und du nimmst dein Umfeld mehr wahr. Merkst, wo du reinpasst und wo nicht. Aber mein Dad hat immer daran geglaubt, dass ich hierhergehöre. Also haben wir uns auf das Rennfahren konzentriert."