Whitmarsh: Vettel soll lieber andere abschießen!
Der McLaren-Teamchef im Gespräch: Was er von Sebastian Vettels Rammstoß hält, wie sein Team Weltmeister werden will und wo im Winter getestet wird
(Motorsport-Total.com) - Trotz des unglücklichen Ausfalls von Jenson Button, der völlig unverschuldet von Sebastian Vettel aus dem Rennen bugsiert wurde, überwog bei McLaren gestern in Spa-Francorchamps die Freude. Denn Lewis Hamilton lieferte bei Mischverhältnissen eine erstklassige Leistung ab und übernahm damit die WM-Führung, drei Punkte vor Mark Webber.
Martin Whitmarsh ärgerte sich im Gespräch mit einigen Medienvertretern vor allem über Vettels Rammstoß, dennoch schreibt er Button für die restlichen sechs Rennen und den WM-Kampf noch keineswegs ab. Außerdem glaubt er, dass McLaren noch Performance finden muss, um es auch nach Monza mit Red Bull aufnehmen zu können. Thema war außerdem das Meeting der Teamvereinigung FOTA am Sonntagmorgen.
Lob für beide Fahrer
Frage: "Martin, Sieg für Lewis, Pech für Jenson. Wie lautet deine Bilanz des heutigen Rennens?"
Martin Whitmarsh: "Lewis hat einen fantastischen Job gemacht. Das war ein dominantes Rennen von ihm, in dem er sich gleich mal einen Vorsprung aufbauen konnte. Er hatte einen kleinen Ausritt, aber ansonsten war es eine fantastische Leistung. Was mit Jenson passiert ist, ist enttäuschend. Wir müssten jetzt eigentlich beide WM-Wertungen anführen, nicht nur die der Fahrer."
"Das war schon ein komischer Fehler von Vettel, muss ich sagen. Mir ist klar, dass es keine Absicht war, aber es sah wirklich sehr merkwürdig aus. Wenn er innen überholen wollte, dann hatte er dafür nicht einmal einen Meter Platz, insofern frage ich mich, was er da wollte. Frustrierend, aber that's Racing. Wir müssen nach vorne schauen, denn wir haben wieder Schwung aufgenommen. Uns war bewusst, dass wir hier zurückschlagen und gewinnen müssen - und das ist uns gelungen. Jetzt schauen wir, was in Monza möglich ist."
Frage: "Du hast Sebastian Vettels Fehler als den Fehler eines Nachwuchspiloten bezeichnet. Stimmt das?"
Whitmarsh: "Das kann schon sein (lacht; Anm. d. Red.)! Sebastian ist ein netter Kerl, der das nicht absichtlich gemacht hat. Wenn dir aber solche Dinge immer wieder passieren, musst du dir irgendwann Gedanken machen, was da in deinem Kopf vorgeht. Es sah so aus, als wollte er innen angreifen, aber dort war wie gesagt kaum Platz. Ich weiß also nicht, was er da wollte. Dann hat er das Ding verloren. Mir wäre lieber gewesen, er hätte dabei seinen Teamkollegen erwischt als uns."
Frage: "Es begann da gerade zu regnen. War Jensons Bremspunkt signifikant anders als in den Runden davor?"
Whitmarsh: "Nein, ich glaube nicht. Ihr solltet Sebastian fragen, was er da vorhatte, denn mir erschließt sich das nicht. Er wollte wohl auf einer Innenlinie durch, die nicht vorhanden war. Beim Bremsen hat er das Auto verloren, sich gedreht und Jenson aufgespießt, der bis dahin ein sehr solides Rennen gefahren ist. Jenson hatte ein beschädigtes Auto, fuhr aber um den Schaden herum und machte das ziemlich gut."
Frage: "Wisst ihr, wo sein Frontflügel beschädigt wurde?"
Whitmarsh: "Ich glaube, das war im Gerangel in der ersten Runde, aber ich weiß nicht wo genau, um ehrlich zu sein. Es war in der ersten Runde und wir wussten, dass wir nichts dagegen unternehmen können. Beim Boxenstopp hätten wir die Nase vielleicht gewechselt, aber Jenson kompensierte das sehr gut, war eines der schnellsten Autos und behauptete seine starke Position. Er glaubt, dass er Zweiter geworden wäre, und das glaube ich auch. Dieser zweite Platz wurde ihm weggenommen."
Frage: "Wie viel Anpressdruck hat er durch den Frontflügel verloren?"
Whitmarsh: "Ich habe keine Zahlen, aber die Balance war schlechter. Er hat das mit dem verstellbaren Frontflügel ein bisschen ausgeglichen. Wir dachten darüber nach, eine weitere mechanische Änderung vorzunehmen. Wir hätten die Nase beim Stopp wechseln, den Reifendruck ändern oder ihm den Frontflügel vielleicht mechanisch steiler stellen können. Er schöpfte den Spielraum zur Anpassung voll aus, aber wir hätten das mit einer händischen Anpassung noch weiter treiben können. Ich schätze, dass wir das getan hätten."
Sanfte Kritik an Vettel
Frage: "Bist du überrascht, dass Sebastian Vettel diese Saison so viele Fehler macht?"
Whitmarsh: "Es waren schon ein paar zu viel, aber er ist zweifellos schnell. Außerdem ist er noch jung und er lernt dazu. Mir wäre es aber wie gesagt lieber, wenn er lernt, indem er andere Autos abschießt als uns."
Frage: "Christian Horner hat Lewis als glücklichsten Kerl in ganz Belgien bezeichnet, weil sein Ausritt keine Folgen hatte. Aber Lewis bringt es im Regen irgendwie sehr oft auf die Reihe, oder?"
Whitmarsh: "Ja. Die meisten Leute halten ihn für einen sehr guten Regenfahrer und ich persönlich finde, dass er einen fantastischen Job gemacht hat. Er hat gewonnen, weil er der Schnellste war. Er hatte einen guten Start, dominierte, baute sich einen Vorsprung auf, fuhr innerhalb seiner Grenzen. Ja, es gab eine Schrecksekunde, aber dafür hatte er genug Vorsprung, den er sich zuvor erarbeitet hatte. Danach kam es darauf an, die Führung nicht mehr abzugeben."
Whitmarsh: "Sehr knapp, aber wir hatten einen Vorsprung. Es war eine Frage des Beobachtens und wir kamen zu dem Schluss, dass es so sicherer wäre. Wenn du hinten bist, gehst du auf Risiko, aber wenn du führst, willst du Risiken vermeiden. Daher dachten wir, dass wir draußen bleiben und uns erst anschauen, was die anderen machen. Zu dem Zeitpunkt war er auf den gleichen Reifen wie seine direkten Gegner im Rennen. Das war der richtige Weg."
Frage: "Ihr hättet mit Lewis genau wie Mercedes so lange draußen bleiben können, bis es zu regnen anfängt, um einen Reifenwechsel zu sparen. Habt ihr darüber nachgedacht?"
Whitmarsh: "In unserer Position war es das Richtige, erst die anderen ihre Karten spielen zu lassen. Sie taten das und wir reagierten darauf. Was wir auch vermeiden wollten, war, ein oder zwei Runden vor einem Regenschauer auf harte Reifen zu wechseln und dann die Reifen nicht auf Temperatur zu haben, wenn es zu regnen beginnt. Das war ein anderes Risiko. Wir wussten, dass es regnen wird, aber du weißt nicht, wie stark es regnen wird. Den ersten Schauer konnte man ja auch leicht durchfahren."
Frage: "Würdest du sagen, dass Jenson im WM-Kampf jetzt nur noch Außenseiter ist?"
Whitmarsh: "Oh nein! Ich war gerade bei unseren Fahrern und habe gehört, wie Jenson zu Lewis gesagt hat, dass er sich trotz der 35 Punkte warm anziehen muss! So sollte es sein. Es wechselt alles sehr schnell. Jenson hatte heute riesiges Pech, denn er hätte normalerweise viele Punkte geholt und wäre dann immer noch vorne dabei. Aber in den nächsten Rennen kann sich das ganz schnell wieder ändern."
Frage: "Sebastian Vettel hat heute viele Punkte verloren. Ist Mark Webber nun euer Hauptgegner?"
Whitmarsh: "Mathematisch ist er unser erster Verfolger. Er ist ein starker Fahrer und er fährt gut, also ist er unser Hauptgegner. Noch sind aber viele Fahrer im WM-Kampf. Wir erleben eine fantastische Weltmeisterschaft, in der wir erst vor kurzem die Saisonmitte überschritten haben. Es ist großartig, die Fahrerwertung anzuführen. Wir sollten auch die Konstrukteurswertung anführen, aber da sind wir einen Punkt hinten. Da ist noch alles offen."
Whitmarsh erwartet keine Stallorder
Frage: "Würde es dich überraschen, wenn sich Red Bull nun nicht hinter Mark Webber stellt?"
Whitmarsh: "Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht. Ich glaube, dass sie ihren jüngeren Fahrer sehr mögen, daher werden sie sich nicht hinter Mark stellen. Das sagt zumindest mein Bauchgefühl."
Frage: "Wie wichtig ist es, das nächste Rennen in Monza zu gewinnen?"
Whitmarsh: "Jedes Rennen ist wichtig, denn dies ist eine ausgeglichene Weltmeisterschaft. Ob wie hier gewinnen, in Monza oder Singapur, ist völlig egal. Es ist ein harter WM-Kampf, in dem sich die Punkte ständig verschieben. Wir werden in jedem einzelnen Rennen unser Bestes geben."
Whitmarsh: "Wir haben unsere Entscheidung getroffen, unseren Plan gemacht. Wir wissen, was wir tun. Was das ist, werdet ihr in Monza sehen."
Frage: "Christian Horner sagt, dass Monza ihr schlechtestes Saisonrennen werden sollte..."
Whitmarsh: "Dann wünsche ich mir ausnahmsweise, dass Christian recht hat (lacht; Anm. d. Red.)! Wir werden sehen. Alle sagen, dass wir in Monza so stark sein werden. Ich frage mich, wie sie das wissen wollen, auch wenn ich klarerweise hoffe, dass es stimmt."
Frage: "Euer Speed war nicht immer der beste. Was für ein Update könnt ihr nach Singapur bringen?"
Whitmarsh: "Es gibt ständig Weiterentwicklungen. Noch einmal: Jedes Rennen ist wichtig. Wir müssen das Auto weiterhin verbessern, dürfen keine Fehler machen und müssen gute Rennen hinlegen. Ich bin mir sicher, dass Red Bull auch nicht stillstehen wird, daher ist es eine hart umkämpfte Weltmeisterschaft. So soll es sein."
Frage: "Ferrari ist heute weiter zurückgefallen, was die Punkte angeht. Sind sie damit weg vom Fenster, konzentriert ihr euch jetzt auf Red Bull?"
Whitmarsh: "Nein. Wir konzentrieren uns auf uns selbst, denn du kannst dich nicht auf wen anderen konzentrieren. Unsere Aufgabe ist einfach: Wir müssen unser Auto schneller machen und hart dafür arbeiten, von Rennen zu Rennen. Wir müssen gute Rennen hinlegen und dürfen keine Fehler machen, weder operativer noch taktischer Natur."
Außergewöhnliche Harmonie im Team
"Unsere Fahrer müssen nur weiter so fahren, wie sie das bisher getan haben. Das Tolle ist, dass Jenson sich auch über Siege von Lewis freuen kann. Das ist nicht selbstverständlich. Die Harmonie im Team ist außergewöhnlich. Jenson hat aber noch nicht aufgegeben, sondern er möchte Lewis schlagen. So soll es sein. Als Team sind wir stark. Wir müssen nur das Auto schneller machen, aber das haben wir vor."
Frage: "Heute Morgen gab es ein FOTA-Meeting, bei dem auch über Testfahrten gesprochen wurde. Glaubst du, dass die Testbeschränkung immer noch der richtige Weg ist?"
Whitmarsh: "Ich persönlich würde gerne mehr Tests sehen, aber ich akzeptiere, dass es Teams gibt, denen das wehtun würde. Ich glaube, die meisten Teams wünschen sich ein bisschen mehr Testfahrten."
"Vor Saisonbeginn werden wir vier Tests haben, also sind wir insgesamt bei sechs Tests im nächsten Winter, wenn man die Young-Driver-Tests und die Pirelli-Tests einrechnet. Das ist ein Fortschritt. Was wir im Moment aber nicht haben, ist Einigkeit hinsichtlich der Tests während der Saison. Mir wären auch da ein paar Tests recht, aber wie gesagt, es sind Fortschritte erzielt worden. Sechs Tests im Winter zu haben, ist zumindest mehr als in den vergangenen Jahren."
Frage: "Wird es vor dem Saisonauftakt in Bahrain dort einen Test geben?"
Whitmarsh: "Das ist noch nicht entschieden, aber ich hoffe es. Die Mehrheit der Teams will nach Bahrain fliegen, aber wir müssen ein paar Kleinigkeiten aussortieren. Es wird sechs Tests geben, von denen der letzte möglicherweise in Bahrain stattfinden wird. Das steht noch nicht fest, aber wir wollen hin und die meisten anderen Teams auch. Wir müssen nur sicherstellen, dass es für die kleinen Teams möglichst kostengünstig wird."
Frage: "Stimmt es, dass ihr die Vereinbarung zur Kostenkontrolle (Resource-Restriction-Agreement oder kurz RRA) verlängert habt?"
Whitmarsh: "Das wäre vernünftig, weil es Stabilität verleihen würde, sodass die Leute planen können. Es gibt Anzeichen dafür, dass es so kommen wird, ja."
Frage: "Aber die erste Version greift noch nicht einmal in vollem Umfang, da redet ihr schon über eine Verlängerung. Sollte man nicht erst einmal abwarten, wie sich das RRA bewährt?"
Whitmarsh: "Ich hoffe, dass es schon greift, denn bei uns greift es! Wir haben unsere Ressourcen signifikant reduziert, haben den Windkanal signifikant reduziert. Über andere Teams kann ich nicht sprechen, aber für McLaren macht es einen erheblichen Unterschied. Ich bin mir sicher, dass es allen größeren Teams so geht."