Formel-1-Experte: Zu viel Technik, zu wenig Fahrer-Input auf der Bremse?

Warum der frühere Formel-1-Fahrer Martin Brundle nach dem Baku-Qualifying glaubt, dass der fahrerische Einfluss auf den Bremsvorgang zu gering sein könnte

(Motorsport-Total.com) - Gleich vier Mal gab es rote Flaggen im Formel-1-Qualifying zum Aserbaidschan-Grand-Prix 2021 in Baku. Und der frühere Rennfahrer Martin Brundle sieht die Ursache dafür nicht nur beim anspruchsvollen Baku City Circuit und den dort herrschenden starken Winden, sondern auch in der Technik der Formel-1-Fahrzeuge.

Sebastian Vettel verbremst sich im Aston Martin: Zu viel Input durchs System?

Nach dem Qualifying veröffentlichte Brundle auf Twitter seine persönliche These zu den vielen Zwischenfällen: "Mir scheint, es gibt zu viele clevere Kontrollmechanismen und Algorithmen in einem Formel-1-Bremssystem, die nicht direkt in der Verantwortung des Fahrers liegen."

Es hätten "so viele Weltklasse-Fahrer" in der Qualifikation regelrechte "Anfängerfehler" gemacht, meint Brundle weiter. "Und einige hatten nicht mal einen Schimmer davon, dass sie gleich verunfallen würden."

Ocon: Bremssystem sind komplizierter geworden

Alpine-Fahrer Esteban Ocon sieht es ähnlich wie Brundle und meint, die Entwicklung der Formel-1-Bremssysteme schreite in der Tat rasant voran. Besonders extrem sei es ihm nach seiner "Zwangspause" 2019 bei der Rückkehr ins Formel-1-Cockpit zur Saison 2020 aufgefallen.

Ocon erklärt: "Die Autos haben sich dahingehend entwickelt, dass du die Zeit auf der Bremse gutmachen kannst. Das ist einfach eine Charakteristik dieser Autos. Denn wenn du mit den Bremsen am Limit bist und es gerade so durch die Kurve schaffst, dann fährst du am schnellsten."

So funktioniert eine Formel-1-Bremse

Wie aber funktionieren Formel-1-Bremsen eigentlich? Mercedes erklärt dazu: Grundsätzlich wie an jedem Auto: an allen vier Rädern. Drückt der Fahrer auf das Bremspedal, werden die Hauptbremszylinder - je einer für Vorder- und Hinterachse - zusammengedrückt und es entsteht Flüssigkeitsdruck, der direkt an die vorderen Bremssättel weitergegeben wird.

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Mercedes nutzt den Luftstrom an den Vorderradbremsen nicht nur zum Kühlen des Bremssystems. Das System hat einen Einfluss auf die Aerodynamik. Weitere Formel-1-Videos

Die Verzögerung der Hinterräder wiederum kann auf drei unterschiedliche Weisen erzeugt werden: durch Reibung an den Bremsen, durch die Motorbremse oder durch die MGU-K-Einheit, die kinetische Energie abgreift. Der Fahrer kann die Maßnahmen individuell über das Lenkrad steuern, via Brake-by-Wire-System aber wirken alle drei als Einheit zusammen.

Der bei der Betätigung des Bremspedals entstehende Flüssigkeitsdruck wird an der Hinterachse allerdings von einem elektronischen Drucksensor aufgenommen. Damit erkennt das System, wie viel Bremsleistung insgesamt erforderlich ist, und gibt diese Information weiter an die Bordelektronik. Von dort werden Signale an die drei einzelnen Bremssysteme gesendet, sodass der Bremsvorgang umgesetzt wird.

Warum Ocon trotzdem "überrascht" ist

Trotz des komplizierten Vorgangs sei es laut Ocon "sehr überraschend" gewesen, wie viele Zwischenfälle sich im Qualifying ereignet hätten. "Das sieht man sonst nicht so oft", meint Ocon. Andererseits: "Hier war jeder ständig am Limit und zur Qualifikation hatte der Wind auch noch einmal zugenommen." Letzteres hatte auch Sebastian Vettel als Fehlerursache angeführt.

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Ein weiteres großes Thema im Zeittraining war zudem das extreme "Trödeln" in den Passagen vor der langen Zielgeraden und das Verhalten der Fahrer in diesem Bereich. Denn eigentlich haben sich die Formel-1-Fahrer in einem Gentlemen's Agreement darauf verständigt, sich bei der Vorbereitung einer schnellen Runde in just diesem Bereich der Strecke nicht mehr zu überholen, um sich nicht gegenseitig zu stören.

"Manche Fahrer können das respektieren, aber nicht alle", sagt Red-Bull-Fahrer Sergio Perez. Weil es sich dabei aber um eine informelle Regel und kein Formel-1-"Gesetz" handele, sei es "ziemlich schwierig", der Sache beizukommen.

Wann es chaotisch wird im Qualifying

"Ich denke, das Chaos beginnt, wenn die Leute gegen Ende der Runde das Überholen anfangen", meint Perez. "Du weißt aber, du solltest deine Position halten und versuchen auf Abstand zu gehen. Es ist dann wie in einem Stau, ganz plötzlich, und es wird immer schlimmer. So ist es aber schon seit ein paar Jahren."

Es sei nun vielleicht an der Zeit, dass sich die Fahrer intern besprechen, wie die Situation "sinnvoller" zu meistern sein könnte, "vor allem im Qualifying", erklärt Perez weiter. "Wir müssten respektvoller miteinander umgehen, in dem Bewusstsein, dass man so das Leben für andere schwer macht. Darüber sollten wir auf jeden Fall reden."

"Wie ich schon sagte: Manche Fahrer halten sich daran. Denen kannst du vertrauen, aber anderen nicht. Vielleicht also wäre es gut, das Thema noch mal auf den Tisch zu bringen."