• 22. Januar 2023 · 10:16 Uhr

Formel-1-Pilot und Aktivist: Wie sich Vettels Prioritäten änderten

Sebastian Vettel nutzte seine Prominenz als Formel-1-Fahrer zuletzt vor allem, um sich für Themen einzusetzen, die ihm wichtig sind - Wie es zu diesem Wandel kam

(Motorsport-Total.com) - Nach seiner Ferrari-Karriere hat sich Sebastian Vettel neu erfunden und sich für soziale Gerechtigkeit eingesetzt: vom Müllsammeln nach den Grands Prix über den Verzicht auf Reisen mit dem Privatjet bis hin zur prominenten Unterstützung der LGBTQ+-Gemeinschaft.

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Selbst bei seiner Verabschiedung trug Sebastian Vettel ein Klima-Shirt Zoom Download

Der inzwischen in den Ruhestand getretene Formel-1-Pilot verfolgte seinen Aktivismus mit der gleichen unerbittlichen Energie, die er auch in seine Weltmeisterschaftskampagnen steckte. Aber was hat diesen Wandel ausgelöst?

"Es geht nicht darum, was man hinter sich lässt, sondern darum, was man mitnimmt."

Mit dieser Aussage leitet Sebastian Vettel ein von Aston Martin produziertes Hochglanzvideo zu seinem Abschied aus der Formel 1 ein. Der Soundtrack erinnert an Hans Zimmer und man hat den Eindruck, als würde ein Fahrer nachdenklich aus der Tür huschen, eingehüllt in einen Nebel von Aphorismen.

Wie ist diese scheinbar tiefgründige Aussage zu deuten? In der dritten Phase seiner Formel-1-Karriere hat Vettel eine weitere Wandlung durchgemacht, und zwar zu dem, was manche (abschätzig) einen "Krieger der sozialen Gerechtigkeit" nennen.

Aber die Sache ist die: Es ist ihm egal, welches Etikett man seinem Aktivismus anheften möchte. Er erwartet auch nicht, dass seine ehemaligen Kollegen und Konkurrenten die gleichen Ziele verfolgen, für die er sich eingesetzt hat.

Wie er nach dem Grand Prix von Abu Dhabi zu Lando Norris auf Sky Sports F1 sagte: "Es liegt an anderen Leuten zu entscheiden, was ein Vermächtnis ist, aber man kann versuchen, darauf Einfluss zu nehmen. Man sollte einfach man selbst sein."

"Auch wenn man Vorbilder hat, muss man doch lernen, seinen eigenen Weg zu finden und für die Dinge einzustehen, die einem wichtig sind. Das muss nicht für alle dasselbe sein."

Vettel bleibt sich selbst treu - auch gegen Widerstand

Es war eine persönliche Mission. Vettel weiß, dass er die Formel 1 nicht ändern kann. Er hat offen Kritik an der langsamen und stückweisen Einführung nachhaltiger Kraftstoffe geübt. Er war der erste, der nach dem Einmarsch in der Ukraine zum Boykott des Grand Prix von Russland aufrief, während die FIA und der kommerzielle Rechteinhaber - angesichts der Realität von Verträgen - zögerten.

Und er hat Ein-Mann-Proteste gegen unterdrückerische Praktiken in Ländern, die die Formel 1 besucht, unternommen. So richtete er in Saudi-Arabien eine reine Frauen-Kart-Veranstaltung aus und trug in Ungarn in der Startaufstellung ein Regenbogen-T-Shirt mit dem Schriftzug "Same Love" kurz bevor das Land ein Gesetz gegen die LGBTQ+-Gemeinschaft einführte.

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Sebastian Vettel tritt öffentlich für die Rechte der LGBTQ+-Gemeinde ein Zoom Download

Personen, die ihm nahestehen, haben angedeutet, dass der Unwille, in diese und andere Länder wie Katar zurückzukehren, zu seiner Rücktrittsentscheidung beigetragen habe, ebenso wie der Einstieg von Aramco - dem weltweit größten Produzenten von Treibhausgasen - als Co-Titelsponsor von Aston Martin.

Vettel hatte sich vorgenommen, sein Profil zu nutzen, um in der Welt etwas zu verändern. Aber warum sollte er damit bis zum Ende seiner Karriere auf der Rennstrecke warten? Dafür gab es mehrere Gründe.

Einer davon war die Erkenntnis, dass sein Ehrgeiz, seinem Kindheitshelden Michael Schumacher als Fahrer nachzueifern, unerreichbar geworden war, nachdem er die Kündigung von Ferrari für 2020 erhalten hatte.

Ein weiterer Grund ist, dass er seit seiner Trennung von Red Bull sein eigener Herr ist - mit dem Selbstvertrauen, das einem gebührt, der vier Weltmeisterschaften in Folge gewonnen hat. Außerdem ist er Vater geworden.

Persönliche Schicksale beeinflussen Vettel

Wie Vettel jetzt in einem Abschiedsvideo, das er nach seinem letzten Grand Prix auf Instagram gepostet hat, erklärt, änderte sich seine Lebensperspektive, als er und seine Frau kurz nacheinander zwei Töchter bekamen - und dann erlag sein Schwiegervater dem Krebs. Bis dahin war er ein junger Fahrer in der Formel-1-Blase gewesen, der sich vor allem darauf konzentrierte, Rennen zu gewinnen.

"Ich wurde mit der Zukunft konfrontiert", sagt er, "als ich meine Kinder zum ersten Mal in den Armen hielt und gleichzeitig wurde ich mit dem Tod, dem Ende des Lebens, konfrontiert. Das hat mich wirklich dazu gebracht, über mein Leben und die Zukunft, die vor uns liegt, und die Welt, in der wir leben, nachzudenken."

"Als mir das klar wurde, habe ich darüber nachgedacht, wie ich die Stimme, die ich habe, nutzen kann, um die Dinge anzusprechen, die für uns alle wichtig sind. Wenn ich mir unsere Welt anschaue, unser Klima, dann denke ich, dass sich unsere Welt schnell verändert und wir alle überlegen müssen, was wir tun können."


Lebenswerk: So rührend & lustig war Vettels Rede!

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Kein anderer kann Dankesreden so gut wie Sebastian Vettel. In diesem Video zeigen wir euch seinen Auftritt bei den Autosport-Awards in London. Weitere Formel-1-Videos

Der Wechsel zu Aston Martin ermöglichte nicht nur ein weniger druckvolles Umfeld auf der Rennstrecke, in dem Vettel weniger Gefahr lief, von seinem Teamkollegen abgewatscht zu werden. Es festigte auch seine Fähigkeit, in Sachen PR das Sagen zu haben.

Die Arbeit mit den Medien war lange Zeit sein unbeliebtester Aspekt des Jobs. Er gibt der Formel-1-Presse nur selten Interviews und hat die sozialen Medien bis vor kurzem gemieden. Das hat ihn für Teams und Sponsoren in der modernen Marketinglandschaft zu einem Aktivposten von abnehmendem Wert gemacht.

Projekte im Kleinen, um etwas zu verändern

Dementsprechend fand das Kommunikationsteam von Aston Wege, durch die Vettel die Medienarbeit auf eine andere Art und Weise leisten konnte - angetrieben von Dingen, für die er sich engagieren wollte, anstatt mürrisch in Medienrunden zu sitzen und achtmal hintereinander die gleichen Fragen zu beantworten.

Dadurch, dass er nicht mehr für Philip-Morris-Tabakprodukte oder einen Energy-Drink warb, der aufgrund seines Zuckergehalts wahrscheinlich in mehreren Ländern nicht mehr an Kinder verkauft werden darf, konnte Vettel mehr persönliche Auftritte in Schulen absolvieren.

Neben mehreren anderen Initiativen wurde er Botschafter für BioBienenApfel, eine in Deutschland ansässige Kampagne zur Erhaltung der Bienenpopulationen. Während des österreichischen Doubleheaders 2021 rief er einen Wettbewerb für Grundschüler aus der Region aus, bei dem es darum ging, ein Bienenhotel zu entwerfen. Er wählte den Siegerbeitrag aus und half den Gewinnern beim Bau des Hotels.

Im vergangenen Mai besuchte er die Jugendstrafanstalt Feltham, um im Rahmen eines Programms zur Förderung von Karrieren in den Bereichen Mechanik und Technik eine Werkstatt zu eröffnen.

Nach dem Grand Prix von Großbritannien 2021 organisierte Vettel eine Müllsammelaktion- Inspiriert wurde er dazu, wie er sagte, durch eine Fahrt zur Aston-Martin-Fabrik, bei der ihm die entmutigende Menge an Unrat am Rande der Autobahnen auffiel - ein deutlicher Kontrast zur Umwelt in seiner Wahlheimat Schweiz.

Natürlich gab es einige, die dies als eine Gelegenheit wahrnahmen, um vor den Kameras seine Tugendhaftigkeit zu demonstrieren. Aber die Arbeit ging noch lange weiter, nachdem die Kameras aufgehört hatten zu drehen: Vettel schuftete mehrere Stunden lang und fuhr sogar mit dem Müllwagen zurück zum Depot, um beim Sortieren des Recyclings zu helfen.

Es war derselbe Sebastian Vettel, der die Ärmel hochkrempelte und seinen Red-Bull-Mechanikern half, die Garage aufzuräumen, damit sie schneller die Weltmeisterschaft feiern konnten.

Politisch interessiert und informiert

Ähnlich beeindruckend war Vettels Auftritt in einer BBC-Fragestunde. Britische Themen wie der Oppositionsführer Ihrer Majestät, der nach einem Treffen im Wahlkreis bei einer Flasche Bier fotografiert wurde, und die Frage, ob es sich dabei um ein "gesellschaftliches Treffen" im Sinne der Covid-Bestimmungen handelte, müssen einem in der Schweiz lebenden Deutschen hoffnungslos abstrus erscheinen.

Nichtsdestotrotz bewies er eine beeindruckende Kenntnis nationaler und internationaler Angelegenheiten sowie eine nachdenkliche Eloquenz, die die Gastgeberin Fiona Bruce dazu zu veranlassen schien, sich ihm zuzuwenden, anstatt den zänkischen Politikern, die rechts von ihr saßen.

Und so fand sich Vettel in der Poleposition für die Frage, ob Finnland als Reaktion auf die Aggression von Wladimir Putins Russland der NATO beitreten sollte.

Die meisten Formel-1-Fahrer, mit Ausnahme von Valtteri Bottas vielleicht, hätten Schwierigkeiten, Finnland auf einer Landkarte zu finden, geschweige denn, etwas über die Länge seiner Landgrenze zu Russland und die Geschichte früherer Konflikte zu sagen.


Fotostrecke: Reaktionen zum Formel-1-Rücktritt von Sebastian Vettel

Hier wurde er auch mit einer anderen wichtigen Frage konfrontiert: Ist er ein Heuchler, wenn er einen "benzinfressenden" Sport betreibt und sich gleichzeitig gegen den Klimawandel einsetzt? Er hätte an dieser Stelle betonen können, dass er nicht mehr zu Grands Prix fliegt, wenn es nicht sein muss, und schon gar nicht im Privatjet.

Rücktritt trägt neuen Prioritäten Rechnung

Er hätte erklären können, dass sein tägliches Auto kein Aston Martin, sondern ein Ein-Liter-Hybrid-Skoda Octavia Kombi ist. Er hätte seine Bewunderung für Greta Thunberg und Luisa Neubauer, bekannte Namen in der "Fridays for Future"-Bewegung, zum Ausdruck bringen können. Stattdessen sagte er: "Das ist es."

Im Nachhinein ist es nicht verwunderlich, dass Vettel etwas mehr als zwei Monate später seinen Rücktritt ankündigte, in aller Ruhe seine letzten Grands Prix genoss und dann zur Tür hinausging.

Auch wenn sich andere Fahrer in sozialen Angelegenheiten weniger engagieren oder lautstark äußern, hinterlässt er keine Lücke: Fahrer wie Lewis Hamilton, Lando Norris und Alex Albon setzen sich, wie Vettel sagte, für Dinge ein, die ihnen wichtig sind.

In einem letzten Interview, das auf der Aston-Martin-Website veröffentlicht wurde, sagt er treffend: "Es wird wahrscheinlich ein Punkt kommen, an dem sich niemand mehr an mich erinnern wird." Das werden sie, Seb. Das werden sie.

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