• 08. August 2020 · 09:24 Uhr

Alle gegen Otmar Szafnauer und Toto Wolff: Jetzt herrscht Krieg!

Der Ton wird rauer in der "Copygate"-Affäre: "Endlich hat man mit dem Märchen aufgeräumt, welches uns seit Monaten erzählt worden ist", spottet Andreas Seidl

(Motorsport-Total.com) - Der Ton wird rauer in der "Copygate"-Affäre in der Formel 1. Hinter vorgehaltener Hand reden viele Top-Ingenieure seit Monaten davon, dass es faktisch unmöglich ist, ein komplettes Auto so detailgetreu nachzubauen, wie das Racing Point mit dem Mercedes F1 W10 EQ Power+ aus 2019 gemacht hat. Doch kaum liefen die Kameras oder die Diktiergeräte, wurden solche Vorwürfe mangels Beweisbarkeit nicht mehr ausgesprochen.

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Am Freitag eskalierte der Streit rund um die "Copygate"-Affäre in der Formel 1 Zoom Download

Das ist seit dem FIA-Urteil gegen Racing Point (400.000 Euro Geldstrafe, 15 Punkte Abzug in der Konstrukteurs-WM) anders. Jetzt wird auch mit Tonband geredet. Wichtig sei, sagt etwa McLaren-Teamchef Andreas Seidl im Interview mit 'Sky', dass man "endlich mit dem Märchen aufgeräumt hat, welches uns seit Monaten erzählt worden ist, dass jemand eine Vision hatte, eine große Kamera gekauft hat und mit den Fotos ein Auto gebaut hat, mit dem er um das Podium kämpfen kann".

Der Verdacht der Racing-Point-Gegner ist klar: Andrew Green und sein technisches Team haben den RP20 nicht nur auf Basis legal erworbener Spionagefotos entwickelt, sondern möglicherweise CAD-Daten oder Zeichnungen von Mercedes erhalten. Manche verbreiten sogar die Theorie, dass einige Racing-Point-Ingenieure die Möglichkeit hatten, ein ganzes Mercedes-Auto zu vermessen. Beweisen kann das aber keiner. Für Racing Point und Mercedes gilt die Unschuldsvermutung.

Toto Wolff erzählt: "Voriges Jahr haben wir ein paar Mal erlebt, dass einer unserer Hauptgegner mit einer 3D-Kamera versucht hat, unser Auto zu scannen. Diese 3D-Kameras sind ganz schön groß. Trotzdem standen die in der Garage und außerhalb!" Wer das gewesen sei, verrät der Mercedes-Teamchef nicht. Das sei ohnehin "ziemlich offensichtlich".

"Reverse-Engineering": Was ist das und wie geht das?

Genau so habe auch Racing Point den W10 kopiert und auf Basis der dadurch erworbenen Scans sogenanntes "Reverse-Engineering" betrieben, um den RP20 zu entwickeln. "Reverse-Engineering" bedeutet, dass am Anfang des Designprozesses nicht die Zeichnung steht und am Ende das fertige Produkt, sondern man sich auf Basis von Fotos oder Modellen des fertigen Produkts den Designweg bis hin zur Zeichnung herleitet.

"Wenn du diese Kamera an einen Computer ansteckst, kannst du daraus alle Formen ableiten", erklärt Wolff. "Die Technologie existiert. Und es gibt nichts, was das verbietet. Jeder hat doch seine eigenen Spionagefotografen auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes positioniert, um jedes noch so kleine Detail der anderen Autos zu fotografieren."

Aber dass der "rosarote Mercedes" RP20 auf diese Weise entstanden ist, glaubt außerhalb von Racing Point und Mercedes kaum jemand. "Sie haben ja behauptet, dass sie das Auto mit Fotos kopiert haben. Wenn man das FIA-Dokument liest, wird klar, dass das Bullshit ist", wird McLaren-Boss Zak Brown deutlich - und sagt: "Jetzt müssen wir dieses Auto auch insgesamt in Frage stellen."

Eine Aussage, die wiederum Otmar Szafnauer auf den Plan ruft. Er kontert: "Für Zak Brown ist das Bullshit, weil er kein Ingenieur ist. Er hat keine Ahnung, wovon er spricht. Null. Ich bin überrascht, wie wenig er über die Regeln der Formel 1 weiß. Mir scheint, er weiß mehr über historische Rennen als über die Formel 1."

Aber Brown legt nach: "Die Aussagen, dass das Auto auf Basis von Fotos entwickelt wurde, hat doch eh kaum jemand geglaubt. Dass das eine Falschaussage war, wurde jetzt bewiesen." Und: "Ich habe mit vielen Leuten geredet, die sich viel besser auskennen als ich. Und jeder sagt, dass es unmöglich ist, ein Auto so akkurat nachzubauen. Wenn jetzt klar ist, dass sie nicht nur Fotos hatten, stellt sich für mich die Frage, welche anderen Bauteile auch nicht nur mit Fotos nachgebaut wurden."

Mattia Binotto, derzeit für jede Gelegenheit dankbar, Mercedes eins auszuwischen, stimmt mit Brown überein. Ein Auto nur auf Basis von Fotos oder 3D-Aufnahmen so präzise nachzubauen, hält er für "sehr schwierig. Fast unmöglich. Die Bremsbelüftungen sind ja nur die Spitze des Eisbergs", sagt der Ferrari-Teamchef.

Binotto: Einmalig in der 70-jährigen Formel-1-Geschichte

"Wenn so etwas in 70 Jahren Formel-1-Geschichte noch nie passiert ist, dann nicht, weil noch nie jemand die Idee hatte. Sondern weil es unserer Meinung nach einfach nicht möglich ist, ein Auto zu kopieren und das ganze Konzept dahinter zu verstehen", erklärt Binotto und verrät, dass er der FIA deswegen einen Brief geschrieben hat. Das war noch bevor bekannt wurde, dass Ferrari gegen das in Binottos Augen zu milde Urteil gegen Racing Point in Berufung geht.

Renault, das einzige Team, das einen formellen Protest gegen Racing Point eingelegt und die Sache damit ins Rollen gebracht hat, wird es vorerst bei den Bremsbelüftungen belassen und abwarten, was das Berufungsverfahren ergibt. Teamchef Cyril Abiteboul ist dabei wichtig: "Wir müssen ein starkes Signal setzen, dass solche Informationen in Zukunft nicht mehr transferiert werden dürfen."

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Toto Wolff ist sich sicher, dass Mercedes nichts falsch gemacht hat Zoom Download

Wolff blickt dem Verfahren gelassen entgegen: "Die Bremsbelüftungen sind nicht der Grund dafür, dass dieses Team plötzlich konkurrenzfähig ist. Das ist nur ein Nebenschauplatz. Wenn jemand nicht happy ist, nun, dann muss er Protest einlegen und das Thema zum Berufungsgericht schleppen. Ich denke nicht, dass das Erfolg haben wird. Ich finde, sie hätten mehr Demut an den Tag legen sollen und anerkennen, dass da jemand gute Arbeit geleistet hat."

In einem Interview mit 'Sky' wird der Österreicher erstmals persönlich. Es formiere sich eine "kleine Gruppe" Rebellen, "die Racing Point an den Kragen wollen". Dabei kann er sich einen Nachsatz nicht verkneifen: "Klein in jeder Hinsicht." Was er damit meint, lässt Wolff offen. Viele fassen die Aussage als Anspielung auf die überschaubare Körpergröße mancher Gegenspieler auf.

Das Motiv derjenigen, die jetzt gegen Racing Point in den Krieg ziehen, sei vor allem, dass "sie sauer sind, dass sie selbst nicht die Performance von Racing Point haben", knurrt Wolff. Und er betont: "Es gab keine konkrete Regel oder technische Richtlinie, die es verboten hat, 2020 Teile einzusetzen, die man 2019 ganz legal erhalten und dann selbst redesignt hat. Steht einfach nirgends. Genau das hat Racing Point getan."

Der 'Sky'-Moderator kontert: Aus dem FIA-Urteil gehe klar hervor, dass das nicht wahr sei. Noch am 6. Januar 2020 wurde ein kompletter Satz Bremsbelüftungen von Mercedes an Racing Point geliefert. Da waren die Bremsbelüftungen aber laut FIA-Reglement nicht mehr ungelistet, sondern schon gelistet. Und durften damit nicht mehr zwischen Teams hin- und hergeschoben werden.

Wolff lässt Argument von 'Sky'-Moderator nicht gelten

Wolff weist das Argument als "total irrelevant" ab: "Die Bremsbelüftungen von Racing Point waren schon lange vor Jahresende fertig. Die wurden eigentlich nur für die Wintertests geliefert, weil ihre eigenen noch nicht fertig waren. Das hatte keinerlei Auswirkung mehr auf das Design ihrer eigenen Bremsbelüftungen. Das hält die FIA in ihrem Urteil auch so fest."

Und er holt zum Gegenangriff aus: "Wir hatten 2015 einen Fall mit Haas. Haas bekam damals das ganze Auto von Ferrari. Es gab nicht ein einziges Teil, das Haas selbst designt hatte. Wurde alles von Ferrari gemacht. Sie haben ein Schlupfloch genutzt, weil sie kein eingetragener Teilnehmer waren. Und sie haben ein Auto auf die Strecke gestellt, das sehr konkurrenzfähig war, weil es eine Ferrari-Kopie war."

"Wir haben diese Schlupflöcher schon oft gesehen. Wir haben das damals sportlich genommen. Wir wollten eine Klarstellung, genau wie Renault. Die Klarstellung kam dann auch, nämlich dass sie kein Teilnehmer waren, weil sie noch nicht in die WM eingeschrieben waren. That's it. Von dem Punkt an musst du dich damit abfinden und versuchen, sie zu schlagen. Finde dich damit ab!"

Eine Darstellung, die Haas-Teamchef Günther Steiner nicht auf sich sitzen lässt und als "totalen Mist" abqualifiziert: "Wir haben nie einen kompletten Ferrari eingesetzt. Wie sollte er das auch wissen? 2015 waren die Regeln außerdem noch ganz anders. Die wurden erst nachher klargestellt. Wir haben immer nur das verwendet, was wir legal einkaufen konnten.

"Einerseits die Bremsbelüften jemandem zu geben und dann zu sagen, dass wer anderer das ganze Auto eingesetzt hat, ist ein bisschen extrem", sagt Steiner und vermutet: "Ich glaube, da spricht das schlechte Gewissen. Mir kommt vor, Toto steht ziemlich mit dem Rücken zur Wand. Und jetzt versucht er, mit anderen Dingen abzulenken."

McLaren-Technikchef: Das ist bei Racing Point anders

Denn für die, die behaupten, sich mit der Materie auszukennen, ist der Fall klar. McLaren-Technikchef James Key etwa hat kein Verständnis für die Argumentation, der Racing Point sei ein ganz legal anhand von Fotos nachgebauter Vorjahres-Mercedes: "Man muss sich ja nur die Fotos von den beiden Autos anschauen. Dann ist eigentlich alles gesagt."

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Zak Brown und McLaren sprechen mit am deutlichsten aus, was sie vermuten Zoom Download

"Ich beziehe mich damit gar nicht auf die Bremsbelüftungen. Das wurde ja jetzt behandelt. Aber ich sehe das größere Bild. Wenn wir auf unser Auto schauen, dann steckt da zu 100 Prozent McLaren drin. Wir schauen es uns an und können behaupten, dass das unsere eigene Arbeit war. Ich denke, so sollte die Formel 1 sein. So war es auch früher immer."

"Oft hört man, dass die Teams schon immer voneinander kopiert haben. Stimmt. Aber das Gute an der Aerodynamik, und das ist nun mal das, was man sehen kann, ist: Sie macht nur 30 Prozent des Gesamtpakets aus. Wie du diese Oberflächen dann zum Funktionieren bekommst, welche Rolle da kleinste Details spielen, das kannst du von außen nicht erkennen. Darum sieht man so etwas, wie es Racing Point gemacht hat, nicht so oft."

Wenn in der Vergangenheit kopiert wurde, dann oftmals ein Konzept, eine Grundidee - aber nicht ein ganzes Auto, bis hin zur Form der aerodynamischen Oberflächen und Details. "Ein wirklich gutes Beispiel dafür ist der Doppeldiffusor", erklärt Key. "Brawn, Toyota und Williams hatten einen. Und irgendwie sprach sich das rum. Wahrscheinlich, weil Mitarbeiter Teams gewechselt haben."

"Irgendwann hatten alle einen Doppeldiffusor. Aber wir mussten dafür unser eigenes geistiges Eigentum entwickeln. Wir entwickelten eine Lösung, die an unserem Auto funktionierte. Das Grundprinzip des Doppeldiffusors wurde kopiert, nicht der Doppeldiffusor selbst, bis hin in kleinste technische Details. Das ist etwas ganz anderes."

"Die Ähnlichkeiten, die wir in diesem Fall sehen, gehen einen sehr großen Schritt über alles hinaus, was wir bisher erlebt haben", sagt Key und fordert: "Jetzt muss die FIA entscheiden, was sie wollen. Sonst werden wir in Zukunft sehr viele sehr ähnliche Rennautos haben, mit jeweils einem Führungsteam. Und ich glaube nicht, dass sich das irgendjemand wünscht."

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