• 19. Mai 2017 · 16:34 Uhr

Das rote Wunder: Wie bei Ferrari 2017 die Trendwende gelang

Im Vorjahr regierte das Chaos, dieses Jahr bringt Ferrari Mercedes ins Schwitzen: Die ausführliche Innenansicht, was beim Vettel-Team dieses Jahr wirklich anders läuft

(Motorsport-Total.com) - Für viele ist es noch immer ein Wunder: Nachdem Ferrari im Vorjahr den Eindruck machte, wieder in alte italienische Tugenden zurückzufallen und sich als Chaostruppe präsentierte, wirkt man 2017 wie ausgewechselt. Sebastian Vettel verteidigt die WM-Führung auch nach dem fünften Rennen und die Konkurrenz rätselt immer noch, warum die Scuderia plötzlich so stark ist und wieder um den Titel mitfährt.

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Ferrari vor Mercedes? Das wäre im Vorjahr kaum vorstellbar gewesen Zoom Download

"Wenn wir das wüssten, dann würden wir es auch sofort so machen", meint Red Bulls Motorsportkonsulent Helmut Marko, der noch im Vorjahr prophezeite, dass Mercedes bis 2020 nur von seinem Team Gefahr drohe. Der Österreicher weiß, wo die Stärke des SF70H liegt: "Um es simpel auszudrücken: Der Ferrari ist das einzige Auto, das bis dato auf jeder Rennstrecke, bei jeder Temperatur und mit jedem Reifentyp funktioniert."

Doch die Hintergründe beschäftigen auch Marko: "Wie sie das geschafft haben, da rätseln wir alle." Grund genug, für 'Motorsport-Total.com' auf Spurensuche nach der überfälligen Erklärung für den Ferrari-Aufschwung zu gehen. Ausgangspunkt: Maranello - vor genau einem Jahr. Das Team stand vor einem Scherbenhaufen: Ferrari-Boss Sergio Marchionne hatte vor der Saison angekündigt, man werde dieses Jahr um den Titel kämpfen, doch Defekte und ausbleibende Ergebnisse ließen den Druck enorm ansteigen.

Wie Allison-Nachfolger Binotto Ferrari verwandelte

Zudem überschattete eine menschliche Tragödie das Team: Nach dem Tod seiner Frau verbrachte Technikchef James Allison immer mehr Zeit in Großbritannien, um sich um seine Kinder zu kümmern. Es kam zum Bruch - offenbar auch, weil der vom Briten versprochene Sprung nach vorne ausblieb.

"Ich habe noch nie eine technische Abteilung gesehen, die so eine Einheit bildet und so gut miteinander kommuniziert."Marc Gene
Was dann geschah, verblüffte das Fahrerlager: Ferrari-Boss Marchionne legte die Verantwortung nicht in die Hände eines Hochkaräters, sondern beförderte Motorenchef Mattia Binotto zum Technikverantwortlichen. "Das war ein sehr mutiger Schritt", sagt Testpilot Marc Gene, der Ende 2004 zum Team stieß und noch das Ende der großen Ära um Michael Schumacher erlebte. "Und das muss man Marchionne hoch anrechnen, denn es wäre ja sehr einfach gewesen, bloß einen großen Namen zu verpflichten."

Glaubt man den Beteiligten, weht seitdem ein frischer Wind durch die heiligen Werkshallen. Gene, der die Innenansicht des immer wieder als Schlangengrube verschrienen Rennstalls kennt, bestätigt: "Ich habe noch nie eine technische Abteilung gesehen, die so eine Einheit bildet und so gut miteinander kommuniziert."

Wie die neue Ferrari-Struktur funktioniert

Und mit dem 47-jährigen Binotto, der Schweizer Wurzeln hat, scheint Ferrari ein Goldgriff gelungen zu sein. Denn der ehemalige Motorenchef führte gemeinsam mit Marchionne und Teamchef Maurizio Arrivabene eine neue Kommunikationskultur in Maranello ein: Nach außen gibt man sich seit 2017 zugeknöpft, damit man sich für eventuelle Fehlschläge nicht mehr rechtfertigen muss, dafür herrscht intern kein Klima der Angst mehr, sollte eine mutige Idee einmal nicht aufgehen.

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Seit 1995 in Maranello: Mattia Binotto kennt Ferrari in- und auswendig Zoom Download

Vieles davon ist auf Binotto und die neue Struktur zurückzuführen. Während früher eine klare Hierarchie herrschte, berichten nun rund sieben Ingenieure auf einer Ebene an den Technikchef. "Die Struktur ist sehr flach", bestägigt Gene. Er hat eine Idee, warum sich alles so schnell eingespielt hat: "Wenn man jemanden von außen holt, dann braucht es immer Zeit, bis alles läuft." Neben der Beförderung Binottos setzte man vor allem auf interne Brain-Power. "Das sind Leute aus der Fiat-Gruppe, die nicht bekannt sind, und die zum Formel-1-Team wechselten", meint Gene. "Hauptsächlich Italiener."

Der Katalane, der 2009 die 24 Stunden von Le Mans gewann, spricht von einer "anderen Philosphie", die seit dem Sommer 2016 das Geschehen in Maranello bestimmt. "In den vergangenen Jahren sind Leute für ein paar Jahre zu Ferrari gegangen und waren dann wieder weg. Das ist jetzt anders - wir haben dieses italienische Team aus Leuten, die schon lange in der Firma arbeiten." Und Binotto gibt als Kopf die Richtung vor, lässt aber Spielraum für unkonventionelle Einfälle.

Wieso Ferrari plötzlich wieder innovativ ist

"Niemand von außen hätte das so hinbekommen wie er", schwärmt Gene vom Italiener, der auch die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt. "Seine Stärke ist die Vernetzung der Abteilungen. Er kennt Ferrari so gut, also sorgt er dafür, dass alle wirklich gut miteinander kommunizieren. Und die Leute mögen ihn, weil er ein Ferrari-Mann ist, der im Team groß geworden ist. Das ist gut für die Atmosphäre im Team."

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Ferrari-Tester Marc Gene kennt die Innenansichten von Ferrari ganz genau Zoom Download

Während Ferrari in den vergangenen Jahren kaum technische Akzente setzte, besticht der SF70H mit zahlreichen Innovationen. "Wir waren sehr kreativ", fällt auch Gene auf. "Wir setzen auf neue Konzepte, die andere nicht haben. Und das funktioniert! Wir nutzen jetzt die italienische Aufgeschlossenheit, Flexibilität und Kreativität." Auch die Tatsache, dass Designer aus Ferraris GT-Abteilung zum Formel-1-Team gewechselt haben, sieht er als Grund dafür: "Sie haben eine andere Perspektive."

Doch was macht den SF70H so innovativ? Über den angeblich flexiblen Unterboden wurde schon viel spekuliert, doch der Ferrari scheint diesbezüglich legal. Die Geheimwaffe des Boliden sind aber dessen Seitenkästen. Die vorgelagerte Flügelstruktur dient als Trick, damit man bei den tatsächlichen Seitenkästen auf die vom Reglement vorgeschriebene V-Form verzichten kann. Stattdessen baut man wie in der Vergangenheit im rechten Winkel. Dadurch sind die Seitenkästen kürzer, und man kann den Luftstrom leichter um sie herumführen.

Richtungsweisend: Ferraris genialer Trick mit den Seitenkästen

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Aus dieser Perspektive erkennt man den Seitenkasten-Trick von Ferrari am besten Zoom Download

Auffällig ist auch, wie hoch die Kühlluft-Einlassöffungen angebracht wurden. So konnte man im unteren Bereich enger bauen, damit das Diffusordach optimal angeströmt wird. Das generiert zusätzlichen Abtrieb. Die Kühlung kann jedoch trotz der kleinen Einlässe garantiert werden, was auch auf den 90-Grad-Trick zurückzuführen ist. Gut möglich, dass die Ferrari-Ingenieure in diesem Bereich für die kommenden Jahre die Richtung vorgeben werden.

Die kürzeren Seitenkästen bergen noch einen weiteren Vorteil: Sie erlauben es den Ingenieuren, auf einen langen Radstand zu verzichten. Denn das Ziel ist es, zwischen Vorderachse und dem Beginn der Seitenkästen so viel Platz wie möglich schaffen, um dort Wirbel zu generieren, die eine optimale Anströmung des Hecks ermöglichen.

Und der geringere Radstand im Vergleich zum Mercedes sorgt dafür, dass der Ferrari gutmütiger reagiert und mit den Reifen besser umgeht, weil man bei der Gewichtsverteilung mehr Spielraum hat. "Das Auto ist scheinbar leichter zu handeln", wirft Red-Bull-Motorsportkonsulent Marko ein. "Das erkennt mach auch daran, wie gut Räikkönen vor allem im Renntrimm zurecht kommt. Da ist er dieses Jahr dran an Vettel."

Reifengeheimnis geknackt: Ex-Williams-Mann verantwortlich?

Noch immer nicht ganz klar ist, wessen Ideen den SF70H zu so einem beeindruckenden Rennwagen gemacht haben. Der Trick mit den Seitenkästen soll auf den neuen französischen Aerodynamikchef David Sanchez zurückzuführen sein, der seit 2012 in Maranello sitzt und davor bei McLaren und Renault arbeitete. Er ersetzte im vergangenen Herbst den Allison-Vertrauten Dirk de Beer, der zu Williams ging.

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Ein weiterer Blick auf den Seitenkasten: Hier der vorgelagerte Flügel in V-Form Zoom Download

"Ich habe Dirk geholt", offenbart Alex Wurz, der in Grove als Berater fungiert und gemeinsam mit Gene in Le Mans triumphierte. Davor hatte Ferrari den Reifenspezialisten Ernesto Fina von Williams geholt. Auffällig: Während die Italiener 2016 meist von der Rolle waren, wenn das Wetter am Renntag nicht den Erwartungen entsprach, stellt man sich dieses Jahr deutlich besser ein.

"Der Ferrari geht sehr gut mit den Reifen um", fällt auch Wurz auf. Ob das auf Finas Know-how zurückzuführen ist, hält er für "möglich, aber bestätigen kann ich das nicht, weil ich die Details nicht kenne, weil sehr viel mit der Kinematik des Autos zu tun hat." Was der Österreicher aber weiß: "Dass Ernesto ein sehr cleverer Mensch ist."

Wie viel Allison steckt im SF70H?

Bleibt nur noch die Antriebseinheit. Und auch in diesem Bereich, der früher das Kerngebiet von Technikchef Binotto war, scheint Ferrari Meter gemacht zu haben. "Ihr Motor ist bis auf den Qualifying-Modus, wo Mercedes aufdrehen kann, auf Silberpfeil-Niveau", meint Marko, der durch die Red-Bull-internen Daten die Motoren der Konkurrenz einschätzen kann. Und der Binotto ("Ein Super-Mann") gut kennt, weil dieser 2006 für Red Bull die Motoren betreute, als man mit Ferrari-Power unterwegs war.

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Zwischen dem langjährigen Technikchef Allison (li.) und Ferrari kam es zum Bruch Zoom Download

Ist der Erfolg nun also ein Ergebnis der neuen Struktur mit Binotto oder der guten Basis-Arbeit durch Allison und de Beer? Eine Frage, bei der sich die Geister scheiden. "James hat einen extrem hohen Anteil - genauso wie Dirk", ist Wurz überzeugt. Seine Erklärung: "Das Grundkonzept muss man bis spätestens Mitte des Jahres fertigstellen. James und Dirk haben es gemeinsam erstellt. Danach wurde es verfeinert, wodurch man einige Prozentpunkte herausholt, aber die Arbeit für das Rollout-Paket für Barcelona wird schon rund zwei Monate davor begonnen - daher konnte man dazwischen nicht mehr viel machen."

Kurios, dass sich Allison, der offiziell Ende Juli 2016 Maranello verlassen hatte, beim Ferrari-Erfolg in Melbourne ausgerechnet im Lager des Erzrivalen befand. Wurz erinnert sich an eine Begegnung mit dem Briten unmittelbar nach dem Rennen. "Ich habe ihm gratuliert, aber seine Reaktion war: 'Wofür?'", erzählt Wurz. Die Antwort des ehemaligen Formel-1-Piloten: "Dein Auto hat heute gewonnen". Doch die Freude des neuen Mercedes-Technikchefs hielt sich laut Wurz in Grenzen: "Er empfand den Ferrari-Sieg als 'bittersweet', er hatte also gemischte Gefühle."

Hohes Entwicklungstempo: Ferrari auch ohne Allison stark

Ferrari-Tester Gene ist nicht ganz der Meinung seines Kumpels Wurz, wer nun die Lorbeeren einheimsen sollte. "Allison war sehr wichtig für Ferrari, aber es ist nicht sein Auto. Es ist ein italienisches Auto." Der Spanier widerspricht der offiziellen Variante, Allison habe rund um das Budapest-Wochenende 2016 das Team verlassen.

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Williams-Berater Alex Wurz findet, dass Allison die Basis für den Erfolg legte Zoom Download

"Es ist jetzt mehr oder weniger ein Jahr her - es war glaube ich im Mai, auf jeden Fall vor dem Sommer. Das Auto wurde im Februar präsentiert und wurde in den vergangenen vier Monaten weiterentwickelt." Der 43-Jährige beruft sich auf die starke Formkurve: "Wir sind immer noch auf Augenhöhe mit Mercedes. Dabei haben viele vorher gesagt, dass wir bei der Entwicklung nicht mithalten werden können."

Fakt ist jedenfalls, dass die Umstrukturierung Ferrari keinesfalls geschadet hat - eher im Gegenteil. Und am Ende gibt auch Wurz den Entscheidungsträger in Maranello indirekt recht, dass es von Vorteil sein kann, nicht auf große Namen zu setzen. "Du kannst ein Übergenie haben, das ein paar Zuarbeiter hat, oder mehrere sehr clevere Leute", vergleicht er.

Für die zweite Variante spreche, dass es "weniger zwischenmenschliche Reibung gibt, was in einer Firma immer zu Problemen führt. Da kannst du noch so viele Genies haben - wenn die nicht miteinander harmonieren und die unterschiedlichen Abteilungen gegeneinander arbeiten, dann wird das Auto nicht schneller." Am Ende mache die "kollektive Brainpower, also die geistige Kraft der Gruppe, den Unterschied.

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