• 25. Oktober 2016 · 18:27 Uhr

1990: Ein Mexiko-Grand-Prix für die Ewigkeit

Augen zu und voll aufs Gas: Nigel Mansells legendäres Überholmanöver gegen Gerhard Berger in der legendären Peraltada-Kurve geht in die Geschichte ein

(Motorsport-Total.com) - Der 24. Juni 1990 ist ein Tag, der in Deutschland Sportgeschichte geschrieben hat. Bei der Fußball-WM in Italien erfolgte um 21:00 Uhr der Anpfiff zum Achtelfinalspiel gegen die Niederlande. Es sollte die große Revanche werden für die Halbfinal-Niederlage bei der EM 1988, und die gelang auch: Jürgen Klinsmann und Andreas Brehme schossen Deutschland ins Viertelfinale gegen die CSFR, und Rudi Völler und Frank Rijkaard mussten nach der heute legendären Spuck-Affäre vom Platz.

So fand die Formel 1 im fernen Mexiko in der deutschen TV-Primetime praktisch nicht statt, und selbst vor Ort in Mexiko-Stadt schauten viele Journalisten im Pressezentrum lieber Fußball, anstatt im Fahrerlager Informationen zu sammeln und Interviews zu führen. In der Zeit vor dem Internet, in der es noch einen festen Redaktionsschluss gab und keine 24/7-Bereitschaft, war das nicht weiter problematisch.

Mexiko 1990, das ist die Geschichte eines atemberaubenden Überholmanövers: Nigel Mansell im Ferrari vorbei an Gerhard Berger im McLaren-Honda, außen in der spektakulären Peraltada-Zielkurve.

Die Peraltada, das ist jener überhöhte Rechtsbogen, der in der Formel-1-Saison 1990 in den besten Grand-Prix-Autos mit 260 Sachen zu packen ist. Nach dem Sieg von Ayrton Senna 1989 haben die Mexikaner dort neuen Asphalt aufgetragen, sodass die einst mörderischen Bodenwellen verschwunden sind. Trotzdem verschrottet Eric Bernard am Samstagmorgen seinen Lola-Lamborghini. Wie durch ein Wunder übersteht er den Crash unverletzt und kann am Sonntag sogar das Rennen fahren.

Baseball-Stadion ersetzt legendäre Kurve

Heute steht in der Peraltada ein Baseball-Stadion. Die Mutpassage von einst wurde durch eine Schikane ersetzt. Und Nico Rosberg hat dort 2015, im WM-Rennen Lewis Hamilton bereits unterlegen, den Beginn einer sieben Rennen andauernden Siegesserie gefeiert.

Berger sichert sich 1990 die Pole-Position, mit einer schon am Freitag aufgestellten Fabelzeit von 1:17.227 Minuten. Ricciardo Patrese (Williams-Renault) rückt am Samstag zwar bis auf 0,271 Sekunden an ihn heran, aber eine neue Bestzeit verhindern die hohen Temperaturen. Pole-König und WM-Leader Ayrton Senna, Bergers Teamkollege bei McLaren, muss sich mit dem dritten Platz begnügen.

Alain Prost (Ferrari), das sollte in dieser Geschichte noch eine Rolle spielen, qualifiziert sich für den 13. Startplatz.

Streunender Hund auf der Strecke

Der Rennsonntag beginnt mit einer kuriosen Szene. Prosts ungeliebter Teamkollege Nigel Mansell steigt im Warm-up wild gestikulierend aus seinem Ferrari und läuft zur Rennleitung, um einen Abbruch zu fordern. Ein streunender Hund wäre ihm beinahe ins Auto gelaufen. Bis der kleine, aber lästige Köter endlich eingefangen ist, bleiben die roten Flaggen draußen.

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Ayrton Senna geht nach dem Start in Führung, Gerhard Berger fällt zurück Zoom Download

Polesetter Berger verschläft dann den Start, sodass Patrese zunächst in Führung geht, und muss auch Senna passieren lassen. Im Schlepptau des Brasilianers geht aber auch der Österreicher gleich wieder am Williams vorbei. Der rot-weiße McLaren-Express rollt dem Rest des Feldes, angeführt von Nelson Piquet im Benetton-Ford, zunächst auf und davon. Patrese kämpft bis zum Boxenstopp genau wie sein Teamkollege Thierry Boutsen mit den zu hart gewählten Reifen.

Berger hat in der siebten Runde 1,8 Sekunden Rückstand auf Senna, in der neunten schon 4,4. Seit der dritten Runde beginnt sich sein linker Vorderreifen aufzulösen - Graining gab's in der Formel 1 auch 1990 schon. In der 13. Runde kommt er an die McLaren-Box, wo Ron Dennis himself als Teamchef noch den Lollipop hält. Berger fällt auf Platz zwölf zurück, und Senna führt jetzt 14,8 Sekunden vor Piquet.

Prost setzt alles auf die zweite Rennhälfte

Mansell duelliert sich weiter hinten mit Prost, der seinen Ferrari für die zweite Rennhälfte abgestimmt hat. 1990 herrscht Tankverbot beim Boxenstopp, und es macht einen Riesenunterschied, ob das Set-up für volle Tanks am Start oder leere gegen Ende optimiert ist. In Runde 37 schnappt sich Mansell Piquet, dessen Chancen auf das Podium sich in Runde 44 endgültig in Luft auflösen, weil auch er unter abbauenden Reifen leidet, an die Box kommen muss und auf den achten Platz zurückfällt.

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Alain Prost und Nigel Mansell feiern den ersten Ferrari-Doppelsieg seit Monza '88 Zoom Download

In Runde 46 hat Mansell noch 4,7 Sekunden Vorsprung auf Prost, der jedoch immer schneller wird. Neun Runden später tauschen die beiden Ferraris ihre Positionen, weil sich der "Professor" beim Überrunden geschickter anstellt als der Brite. In Runde 61 - Sennas Reifen bauen inzwischen dramatisch ab - gehen beide Ferraris am führenden McLaren vorbei.

Durch einen Dreher macht Mansell möglich, dass ihm Berger plötzlich wieder von hinten auf die Pelle rückt. Der Österreicher, 1989 noch sein Teamkollege bei Ferrari, 1990 neu bei McLaren, kann seit dem Reifenwechsel wieder an die überragende Freitags-Pace anknüpfen, schnappt sich einen Gegner nach dem anderen und taucht plötzlich in Mansells Windschatten auf - bis er sich mit stehenden Rädern sogar an ihm vorbeibremst.

Das Überholmanöver des Jahres

Die Retourkutsche kommt in der vorletzten Runde: Bergers Reifen bauen inzwischen leicht ab, Mansell wittert die Chance auf einen Ferrari-Doppelsieg (den ersten seit Monza 1988). Mansell zackt - seine Nase klebt da schon im Auspuff von Bergers Honda-Motor - links-rechts-links-rechts hin und her, schert dann vor der Peraltada außen nach links aus, nimmt sein Herz in die Hand, lässt den Gasfuß stehen - und zieht tatsächlich vorbei!


Mexiko 1990: Mansell überholt Berger

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Es ist ein Überholmanöver, das in die Formel-1-Geschichte eingeht. "Der Endkampf zwischen Mansell und Berger um den zweiten Platz war das Beste, was die Formel 1 seit langem dargeboten hat", schreibt Helmut Zwickl in Heft 27 der Fachzeitschrift 'Motorsport aktuell' vom 27. Juni 1990. "Wie sich Berger mit qualmenden Reifen an Mansell vorbeihaute, wie Mansell vor der überhöhten Zielkurve wieder am McLaren vorbeiflitzte - ganz große Klasse."

Auch James Hunt schwärmt im Live-Kommentar an der Seite von Reporterlegende Murray Walker: "Ein absolut brillantes Manöver von Mansell, unglaublich mutig." Denn: "Wenn du so hoch in diese Kurve fährst, ist es außen rutschig."

Mansell: Augen zu und durch

Was man wissen muss: Berger hat seinen fünften Gang so abgestimmt, dass er die Peraltada um 200 Touren höher fahren kann als Senna. Das ist im Training ein Vorteil, im Rennen aber nicht hilfreich. Und: "Nigel ließ mir eine Tür offen, er baute mir ein Netz, und so gab es bei meinem Überholmanöver keinen Crash. Zum Dank dafür warf ich ihm in der vorletzten Runde, in der letzten Kurve, keine Tür zu."

Mansell sagt über seine Weltklasse-Aktion nur: "Ich habe die Augen zugemacht und bin am Gas geblieben."

Der Doppelsieg kaschiert, dass Ferrari im Sommer 1990 längst ein politisches Pulverfass ist, das nur noch drauf wartet, endlich zu explodieren. Bei Prost hatten die Mechaniker im Rennen zuvor vergessen, ein Klebeband abzunehmen, weshalb der zu dem Zeitpunkt dreimalige Weltmeister einen Bremsdefekt erlitt.

"Ferrari hat vergessen, wie es ist, Rennen zu gewinnen. Mir scheint, wir müssen die Disziplin verbessern", kritisiert der "Professor" - und meint damit in erster Linie Rennleiter Cesare Fiorio. Chefdesigner Steve Nichols, frisch von McLaren gekommen, kündigt große technische Fortschritte an. Als 1991 noch schlechter wird als 1990 und 1992 noch schlechter als 1991, wird er gefeuert.

Prost und Fiorio zerreiben sich politisch

Niki Lauda kommt in jener Zeit als Berater an Bord, um Ferrari wieder auf die Erfolgsspur zu bringen. Hinter den Kulissen wird eine geheime Kooperation mit Honda vereinbart, um den Motor zu verbessern, und 1994 gewinnt Gerhard Berger in Hockenheim endlich wieder einen Grand Prix für die Scuderia. Michael Schumacher für 1996 zu Ferrari zu holen, ist eine der letzten Amtshandlungen, bei denen Lauda als "Piccolo Commendatore" mithilft.

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Ayrton Sennas Reifenschaden geht auf die Kappe von Teamchef Ron Dennis Zoom Download

Über seinen Sieg in Mexiko sagt Prost: "Vielleicht war das mein bestes Rennen überhaupt."

Dass Prost den Grand Prix gewinnt und nicht sein Erzfeind Senna, liegt an den Reifen. Im Nachhinein wird bekannt: Senna hat am Boxenfunk eigentlich, genau wie Berger, nach einem Reifenwechsel verlangt - ihn aber nicht bekommen. Teamchef Dennis erklärt sich: "Wir ließen Senna mit etwas weniger Reifendruck wegfahren als Gerhard, denn wir waren sicher, es wird kein Problem mit dem Abrieb geben. Zehn Runden vor Schluss dachte ich, ein dritter Platz wäre besser als ihn an die Box zu holen."

Eine Fehleinschätzung. So wurde Senna nämlich nicht Dritter, sondern er schied mit einem Reifenplatzer aus. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte es den Goodyear-Pneu mit mehr als 260 km/h in der Peraltada zerfetzt...

Newey: Hoffnungsloser Nachwuchsingenieur wird gefeuert

Der Spät-Juni 1990 liefert aber auch über das Rennen in Mexiko hinaus einige Schlagzeilen, die einen im Nachhinein betrachtet schmunzeln lassen. So feuert der japanische March-Millionär Akira Akagi entnervt seinen Chefdesigner, weil dessen Autos nicht mehr als siebte Plätze hergeben. Der junge Mann heißt Adrian Newey und heuert in der Folge bei Frank Williams an.

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Adrian Newey verliert 1990 seinen Job bei March und wechselt frustriert zu Williams Zoom Download

Nelson Piquet ärgert sich über Gerüchte, er werde wegen der Zustände in Brasilien seine Staatsbürgerschaft wechseln. Wahr ist: Aufgrund von Reiseerleichterungen holt er sich die brasilianisch-portugiesische Doppelstaatsbürgerschaft. "Der Pass wird mir auf meinen langen Schiffsreisen zwischen Europa und Südamerika das Leben einfacher machen", sagt er.

Und Jean Alesi, da sind sich die einschlägigen Fachmedien einig, wird 1991 für Williams fahren. Die 'Motorsport aktuell' schreibt: "Das Gerücht, wonach Alesi 1991 bereits bei Williams-Renault unterschrieben habe, verdichtet sich zur Tatsache. Selbst wenn Frank Williams und Renault noch eifrig dementieren."

Aus der Tatsache wurde dann doch noch ein Ferrari-Cockpit.

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