• 24. November 2015 · 16:26 Uhr

Frag Gary Anderson: Wie "radikal" kann Mercedes werden?

Der ehemalige Formel-1-Designer Gary Anderson beantwortet Fanfragen und erklärt unter anderem den Bremsvorgang in einem Formel-1-Boliden

(Motorsport-Total.com) - Wird Mercedes 2016 radikal? Könnte man aerodynamischen Grip einfach durch mechanischen ersetzen? Und würden Vorjahresautos das Problem des kleinen Starterfelds in der Formel 1 lösen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Ex-Technikchef Gary Anderson in dieser Woche und steht den Fans Rede und Antwort. Außerdem erklärt er den Bremsvorgang eines Formel-1-Boliden und spricht über seine alte CART-Zeit.

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Gary Anderson beantwortet wieder einmal eine Runde neuer Fanfragen Zoom Download


Metin Mete (Twitter): "Wie riskant und realistisch ist es für Mercedes, etwas Radikales zu versuchen, um den Abstand auf Ferrari 2016 beizubehalten?"
Gary Anderson: "Das Wort 'radikal' wird ein bisschen wahllos gewählt - meistens von Leuten, die eigentlich nicht wissen, worüber sie reden. Innerhalb der bestehenden Regeln ist es ziemlich schwierig, 'radikal' zu sein, außer man lässt sich vom Aufhängungs- oder Getriebe-Design forttragen. So lange man etwas findet, das alle Voraussetzungen erfüllt und das die Rundenzeit verbessert - etwas durch zehn Prozent mehr Abtrieb -, sollte man das Risiko eingehen."

"Tut man es nicht, dann wird es vielleicht jemand anderes geben, der es tun wird. Der schlechteste Weg wäre, 'radikal' zu werden, ohne dass es eine Verbesserung der Performance gibt. Dann bekommt man nur Kopfschmerzen ohne Performancesprung. Dabei nutzt man alle Ingenieursexpertise für nichts, und wenn man ein Problem hat, dann vergeht die Saison wie im Flug, während man den Brand bekämpft. Ein neues Auto ist immer ein Risiko, und man muss jedes Jahr seine Überzeugungen vertreten."


The F1 Engineer (Twitter): "Wäre eine Formel 1 mit begrenzter Energie (zum Beispiel 1000 PS/735) und Benzinlimit (zum Beispiel 125 kg) ein guter Schritt nach vorne?"
Anderson: "Die aktuellen Autos sind in Sachen Performance auf der Strecke in Ordnung. Sie sehen aus wie Rennautos und verzögern und beschleunigen mit atemberaubenden Kräften. Sicherlich sind sie nicht ganz so laut, wie einige es gerne hätten, aber das kommt von der Motorenregel, einen Turbo benutzen zu müssen."

"Der Unterschied zwischen Qualifying und Rennen beträgt rund fünf bis sechs Sekunden, und ich denke nicht, dass man das als Zuschauer wirklich bemerkt. Das liegt vor allem daran, dass die Fahrzeuge im Qualifying alleine unterwegs sind, während man im Rennen Autos hat, die angreifen und sich verteidigen - zumindest in den ersten Runden. Danach wird es dann ein wenig langweilig."

"Es gibt viele Lösungen, 'das Problem in den Griff zu bekommen', aber dafür muss man erst einmal herausfinden, was das 'Problem' ist. Egal in welche Richtung die Regeln gehen: Es wird immer jemanden geben, der es hinbekommt, und der es nicht hinbekommt. Die Regeln müssen das Risiko der eskalierenden Kosten verringern. Abgesehen von ein paar Teams, die irrwitzige Beträge ausgeben, kann sich der Rest der Teams die aktuellen Motorenkosten einfach nicht leisten."

Die Kunst des Bremsens

Tony Surry (Twitter): "Sind Formel-1-Autos mit Bremskraftverstärkern ausgerüstet?"
Anderson: "Nein, der Bremsdruck muss vom Fahrer generiert werden. Zu Beginn des Bremsvorgangs wird der Fahrer rund 160 Kilogramm an Kraft auf das Bremspedal bringen, und mit geringerem Speed und weniger aerodynamischer Belastung auf den Reifen muss der Fahrer den Druck reduzieren. Das ist das Schwierige: In der kompletten Bremszone die maximale Bremskraft zu behalten, ist eine Kunst für sich."

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Wer später bremst, ist länger schnell - aber nicht immer insgesamt schneller Zoom Download

"Die perfekte Situation ist, wenn ein Fahrer nicht mehr einlenkt und man sieht, dass sich die Vorderräder ein wenig langsamer drehen, als es die Geschwindigkeit auf der Straße vorgibt. Wenn man das ohne Blockieren sieht, dann hat der Fahrer seine Bremsdistanz und seinen Pedaleinsatz gerade richtig hinbekommen."


Chris Maden (Twitter): "Denkst du, dass Vorjahresautos eine weitere Klasse in der Formel 1 bilden könnten, um so den Grid zu vergrößern?"
Anderson: "Ich denke, da gibt es durchaus Raum dafür, weil es auch Raum dafür gibt, dass Autos mit verschiedenen Power-Unit-Spezifikationen fahren. Ich würde aber lieber einen vollen Grid mit 26 Autos sehen, die unter einem Regelsatz und in einer Meisterschaft fahren. Wenn nicht so viele Primadonnen involviert wären, die nur an sich selbst denken, und wenn man allen Einsatz da hinein legt, dann hätten wir eine solidere Plattform für die Zukunft."


Luis Regner (Twitter): "Wie viele Tests würden wir brauchen, um mindestens 70 bis 80 Prozent des aerodynamischen Grips durch mechanischen Grip zu ersetzen - etwa durch breitere Autos und Reifen."
Anderson: "Den aerodynamischen Grip um 70 bis 80 Prozent zu verringern, wäre schwierig - 50 Prozent ist vermutlich realistisch. In Realität würde alles mit CFD und Windkanälen gemacht werden, wenn ein solches Reglement geschrieben werden würde, das das erreichen soll. Jegliche Tests auf der Strecke wären nur für die Korrelation, von daher denke ich nicht, dass man zusätzliche Testzeit benötigt."

"Bei aerodynamischen Kräften dreht sich alles um Konstanz, und da sich das Auto beim Bremsen, Kurvenfahren und Beschleunigen bewegt, muss das in die Erwägung einbezogen werden. Ein schnelles Auto ist ein konstant ausbalanciertes Auto. Es ist verlockend, die paar Kilos an Extraabtrieb zu behalten, dafür muss man das Auto aber bei den Aufhängungseinstellungen steifer als nötig machen. Dadurch kann man am Ende mehr verlieren als man gewinnt."

Testbeschränkung "dumme Situation"

"Was die Reifen angeht, so bekommt Pirelli im Grunde keine unabhängigen Testfahrten, was für so ein wichtiges Teil des Rennwagens eine sehr dumme Situation ist. Um praktisch zu werden: Pirelli oder jeder andere Reifenhersteller benötigt vier gute Tests vor der Saison und noch einmal vier weitere während der Saison. Dafür benötigt man ein unabhängiges Auto eines guten Mittelfeldteams, wie Force India, und einen guten ehemaligen Formel-1-Fahrer mit aktueller Erfahrung, etwa Adrian Sutil."

"Ich glaube an die Vorschläge, die du vorbringst. Wenn der Wille da wäre, dann könnte es erreicht werden. Es würde auf jeden Fall besseres Racing bringen."


Fotostrecke: Formel-1-Meilensteine mit zwölf Zylindern

Sasha Selipanov (Facebook): "Was passiert eigentlich bei einem Verbremser? Haben moderne Autos ein ABS-System? Oder liegt es nur am Fahrer, den Druck auf dem Pedal zu kontrollieren und ein Blockieren zu verhindern?"
Anderson: "Sasha, es gibt kein ABS in einem modernen Formel-1-Auto. Wie ich bereits in einer anderen Frage angesprochen habe, hat der Fahrer die Kontrolle über die Bremskraft und passt sie wenn nötig an. Das ist nicht einfach, wenn man bedenkt, was bei einem Bremsvorgang passiert."

"Sagen wir, ein Auto fährt 320 km/h und produziert dabei 1.600 Kilogramm aerodynamischen Abtrieb. Bei Bremskräften um 5 g wird das Auto einen Gewichtstransfer von der Hinter- auf die Vorderachse von rund 250 Kilogramm haben. Dann bremsen sie für eine Sekunde, was rund 100 Metern Distanz entspricht - also sind sie noch mit 80 km/h unterwegs. Bei dieser Geschwindigkeit hat sich der Abtrieb auf 100 Kilogramm reduziert, also haben die Fahrer in dieser Sekunde auf viel zu reagieren."


Scott Turner (Twitter): "Ich habe gesehen, dass Sie für Galles bei den IndyCars gearbeitet haben. Was können Sie aus dieser Zeit erzählen?"
Anderson: "IndyCar, damals noch CART genannt, war Mitte der 80er eine großartige Serie und ziemlich konkurrenzfähig. Ein Auto für 250 Runden auf einem Ein-Meilen-Oval zu fahren, wenn man Vollspeed-Boxenstopps unter gelber Flagge ableisten konnte, war ein fantastischer Adrenalin-Kick."

"Das Indy500 war ein Rennen für sich und damals ein riesiger Event. Man nannte es "den Monat Mai", und das war es auch - man fuhr zu Beginn des Monats nach Indy und ist im Grunde dort geblieben. Man fuhr zwar nicht jeden Tag, aber fast den gesamten Monat lang, und das Rennen war am letzten Wochenende mit 450.000 Zuschauern. Die Rund- und Straßenkurse ließen Knockhill wie eine Grand-Prix-Strecke aussehen. Sie waren wellig und gefährlich und wurden im Normalfall nicht von einem Jahr auf das andere genutzt."

"Ich war auch 2001 bei Reynard. Das war im Grunde der Anfang vom Ende von CART. Die IRL wuchs mehr und mehr, und es gab keinen Platz für zwei Serien. Leider haben beide verloren, und was wir jetzt haben, ist auf keinen Fall mit damals zu vergleichen."

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